Q1/2020 - International Telecommunication Union (ITU)
ITU-Council and Expert Groups (CWG-Internet, CWG WSIS&SDG, EG-ITR, EG-WTPF), Genf, 5. – 12. Februar 2020
Die erste Serie von Treffen der ITU-Council „Working Groups“ und „Expert Groups“ fand vom 3. bis zum 14. Februar 2020 in Genf statt. Für das Thema Internet Governance waren dabei vor allem relevant die Tagungen der Council Working Groups (CWGs) zu Internet und WSIS&SDG sowie der Expert Groups (EGs) zu den International Telecommunication Regulations (ITRs) und dem World Telecommunication Policy Forum (WTPF).
Bei der 14. Sitzung der CWG Internet ging es vor allem um die Implementierung der ITU-Resolutionen 101, 102, 133, 180 und 206, die sich mit internet-relevanten Fragen wie Domainnamen und IP-Adressen befassen. Grundlage der Diskussion war ein Bericht des ITU-Generalsekretärs[1].
Der Sitzung, an der nur Regierungsvertreter teilnehmen können, war ein Online-Konsultationsprozess sowie eine „offene Konsultation“ mit nicht-staatlichen Stakeholdern zum Thema “International Internet-Related Public Policy Issues on Harnessing New and Emerging Telecommunications/ICTs for Sustainable Development“ vorausgegangen. César Martinez, Vice Chair der CWG Internet, leitete die Konsultationen und schätzte den Input der Stakeholder als sehr wertvoll ein. Mitglieder der CWG-Internet schlugen daraufhin vor, den Multistakeholder-Konsultationsprozess enger mit den Regierungsverhandlungen zu verschränken. Der 9. Konsultationsprozess soll zu dem Thema „Expanding Internet Connectivity“ im Zeitraum zwischen Juli und September 2020 stattfinden[2].
Kontrovers wurde ein Vorschlag Russlands diskutiert, eine „Roadmap“ zur Entwicklung von Instrumenten zur staatlichen Regulierung des Internet und neuer technologischer Entwicklungen im Bereich von Telekommunikation zu erarbeiten. Die CWG-Internet solle den Austausch von relevanten Gesetzen zwischen Mitgliedstaaten organisieren und Machbarkeitsstudien zur Regelung von Themen wie Verantwortlichkeit, Datenschutz und Informationssicherheit veranlassen[3]. Zu diesem Vorschlag gab es keinen Konsensus. Einige Mitglieder sahen den Vorschlag nicht durch das begrenzte Mandat der CWG Internet gedeckt. Andere räumten ein, dass das Thema Internet-Regulierung auf die Tagesordnung gehört. Zustimmung fand die Idee eines organisierten Austauschs von internet-relevanten nationalen Gesetzen.
Mit der Diskussion von Regulierungsfragen ist auch die „Dedicated Group on Identifying Internet related Public Policy issues“, eine Untergruppe der CWG-Internet, befasst. Der ITU Council hatte im Juni 2019 mit der Resolution 1305 dieser „Dedicated Group“ ein Mandat gegeben, entsprechende Vorschläge zu erarbeiten, einschließlich zur Regulierung des Managements von kritischen Internet-Ressourcen (den sogenannten „ICANN Themen“). Die Gruppe ist aber bislang noch nicht aktiv geworden. Ein Bericht der „Dedicated Group“ lag der 14. Tagung der CWG-Internet nicht vor. Sie wird auch im Abschlussbericht des saudischen Vorsitzenden der CWG-Internet, Majed Al-Mazyed, nicht erwähnt[4].
Die Umsetzung der oben genannten ITU-Resolutionen 101, 102, 133, 180 und 206 findet hauptsächlich in den Study Groups der ITU-T statt. Dort wird ein breites Spektrum von Themen bearbeiten[5]. Seit August 2019 haben die ITU-Study Groups 132 Empfehlungen überarbeitet oder neu verabschiedet. In der Regel handelt es sich dabei um technische Spezifizierungen. Aktiv sind hier vor allem SG12 (Quality of Services/QoS und Quality of Experiences/QoE), SG13 (5G), SG16 (Video over IP Networks und Video Surveillance Systems), SG17 (Security und Identity Management) und SG20 (Internet of Things und Smart Cities).
Insbesondere SG16 und SG20 befassen sich mit technischen Themen, die erhebliche politische Implikationen haben. In der SG16 werden z.B. Standards für Gesichtserkennung bei Videoüberwachung verhandelt. Die SG20 beschäftigt sich mit Identifiers für das Internet der Dinge und mit Smart Cities. Insgesamt stehen mehr als 40 Einzelthemen auf der erst 2017 gegründeten SG20. So sind z.B. mehr als 100 Städte an dem Projekt „United for Smart Sustainable Cities“ (UFSSC) beteiligt. Dort werden u.a. „Key Performance Indicators for Smart Sustainable Cities“ erarbeitet. Pilotstädte sind Riad, Valencia, Moskau, Ålesund (Norwegen), Dubai und Pully (Schweiz). Neu gestartet wurde eine Pilotstudie zu einem dezentralisierten Identifikationsmechanismus beim Internet der Dinge (Technical Report on Feasibility of Decentralised Identifiers/DIDs in IoT).
Bezüglich der in der Vergangenheit politisch kontrovers diskutierten Themen IP-Adressen und Domainnamen wird eine positive Tendenz zu einer entspannteren Multistakeholder-Zusammenarbeit der ITU mit anderen Gremien sichtbar. Noch vor Jahren war jeglicher Bezug zu ICANN in einem ITU-Dokument Gegenstand einer heftigen politischen Kontroverse. Dies hat sich entspannt. Der Bericht des ITU-Generalsekretärs erwähnt ausdrücklich positiv die Kooperation mit ICANN, aber auch mit IEEE, IETF, W3C, ISOC, RIPE NCC, IGF, Diplo Foundation und anderen Institutionen. Die ITU konzentriert sich momentan bei den Themen IP-Adressen und Domainnamen vor allem auf „capacity building“ in Entwicklungsländern und setzt dabei auch ihre Ressourcen aus dem Entwicklungssektor (ITU-D und BDT) ein. Als neues Konfliktfeld könnte sich aber das Thema „New IP“ entwickeln, das China in die Diskussion der Telecommunication Standardization Advisory Group (TSAG), der Dachorganisation der ITU-T Study Groups, im September 2019 eingebracht hat.
Die 35. Sitzung der CWG-WSIS&SDG fand am 6. und 7. Februar 2020 in Genf unter Leitung ihres russischen Vorsitzenden, Prof. Dr. Vladimir Minkin, statt. Bei der Eröffnung unterstrich ITU-Generalsekretär Houlin Zhao den engen Zusammenhang zwischen den WSIS-Zielen und den nachhaltigen Entwicklungszielen der UNO (SDGs). Auch die Direktorin des Entwicklungssektors der ITU (ITU-D), die Amerikanerin Doreen Bogdan-Martin, verwies auf die von der UNO im Januar 2020 verabschiedeten „Decade of Action“, die auf 2030 und die Erfüllung der SDGs zielt.
Die ITU ist für die Umsetzung von drei Aktionslinien des Genfer „WSIS Plan of Action“ von 2003 zuständig. De facto hat sich aber die ITU über die Jahre mit einer Vielzahl von verschiedenen Aktionen und Initiativen zum eigentlichen „Hüter“ des WSIS-Prozesses im UN-System entwickelt. Formell ist nach wie vor die „UN Commission on Science and Technology Development“ (UNCSTD) für die Umsetzung und Überprüfung der WSIS-Beschlüsse zuständig. Es scheint aber, dass die ITU-CWG-WSIS&SDG de facto diese Rolle übernommen hat.
Die CWG WSIS&SDG nahm Berichte der UNCSTD, des 15. IGF (Berlin) und des 2. Ausschusses der UN-Vollversammlung, die die jährliche UN-Resolution zu „ICT for Development“ verabschiedet, entgegen. Zu den ITU-Aktivitäten zählen neben den Maßnahmen zur Umsetzung der WSIS-Aktionslinien C2, C5 und C6, das jährliche WSIS-Forum, die Verleihung des jährlichen WSIS-Preises, die Organisierung des jährlichen Welttages zur Informationsgesellschaft, das jährliche „WSIS Stocktaking“ und die Erhebung von statistischen Daten zur Entwicklung der Informationsgesellschaft (Measuring ICT for Development). Die ITU ist auch Co-Vorsitzender der UN Group on the Information Society (UNGIS). Und sie bringt auch die WSIS-Komponente in das UN High Level Political Forum ein, das jährlich unter der Schirmherrschaft des ECOSOC auf Ministerebene als Teil der SDGs in New York stattfindet. Bei der Februar-Sitzung der CWG-WSIS&SDG wurde neben den Updates über die ITU Roadmap für C2, C5 und CG auch ein Bericht über die ITU Aktivitäten zu WSIS+15 vorgelegt. Gestartet wurden seitens der ITU bereits Überlegungen zur Vorbereitung der für 2025 geplanten WSIS-Überprüfungskonferenz (WSIS+20)[6].
Die zweite Sitzung der Expertengruppe zur Evaluierung der „International Telecommunication Regulations“ (ITR) endete wie die erste Sitzung 2019 ohne jedes Ergebnis. Nach wie vor stehen sich zwei Positionen gegenüber. Auf der einen Seite sprechen sich Staaten wie Russland oder Saudi-Arabien für eine neue ITR-Verhandlungsrunde aus mit dem Ziel, die 2012 vereinbarten ITRs zu überprüfen und eventuell zu erneuern. Auf der anderen Seite lehnen die westlichen Staaten solche neuen Verhandlungen grundsätzlich ab. Sie argumentieren, dass in einer Zeit, in der sich Technologien schnell verändern, ein neuer Vertrag von vorneherein irrelevant sei. Außerdem gäbe es nach den Erfahrungen der 2012 in Dubai gescheiterten „World Conference on International Telecommunications“ (WCIT) keine Chance auf einen Konsens. Die in Dubai 2012 verabschiedeten ITRs, die die ITRs von 1988 ersetzen sollten, wurden nur von der Hälfte der ITU-Mitgliedsstaaten unterzeichnet. Die Nicht-Unterzeichnung – darunter alle westlichen Staaten – hat zu keinen negativen Entwicklungen in diesem Bereich geführt. Daher seien neue Verhandlungen, die überdies das Risiko in sich trügen, neue politische Kontroversen zur Regulierung des Internet auszulösen, völlig überflüssig. Neue ITRs seien ein Vertrag, den keiner braucht[7].
Das zweite Treffen der „Informal Experts Group“ (IEG-WTPF-21) zur Vorbereitung des „6. World Telecommunication Policy Forum“ (WTPF) fand am 10. und 11. Februar 2020 in Genf statt. Das Generalthema des von der ITU für 2021 geplanten 6. WTPFs ist “Policies for mobilizing new and emerging telecommunications/ICTs for sustainable development“. Das Generalthema des 6. WTPF wird durch fünf identifizierte Einzelthemen unterteilt:
- Künstliche Intelligenz,
- Internet der Dinge,
- 5G,
- Big Data;
- OTT.
Das Forum soll keine verbindlichen Verträge oder Empfehlungen ausarbeiten. Wie bei den vorigen WPTFs (die seit 1994 von der ITU in unregelmäßiger Folge veranstaltet werden) sollen aber auch beim 6. WTPF sogenannte „Non-Binding Opinions“ in einem Konsens-Verfahren ausgehandelt werden. Diese „Opinions“ sollen dann bei zukünftigen zwischenstaatlichen Verhandlungen der ITU – z.B. bei der nächsten ITU-Vollversammlung 2022 in Bukarest – von den Mitgliedsstaaten „berücksichtigt“ werden[8].
Der WTPF-Arbeitsplan sieht vor, Anfang April 2020 einen dritten Entwurf des ITU-Generalsekretärs mit ersten Textentwürfen für die „Opinions“ zu präsentieren. In einem offenen Konsultationsprozess soll dann bis September 2020 – dem 3. Treffen der Informellen Expertengruppe – ein konsolidierter Text für die „Opinions“ vorliegen. Ein 4. Treffen ist für Februar 2021 vorgesehen. Der finale Bericht des ITU Generalsekretärs an das WTPF wird für den 15. März 2021 erwartet. Das 6. WTPF findet Mitte Mai 2021 in Genf statt, back-to-back mit dem WSIS-Forum der ITU.
Der IEG-WTPF-21 gehören über 100 Experten an, darunter auch rund 30 Vertreter nicht-staatlicher Institutionen wie ISOC, ICANN, APNIC, RIPE NCC, APC, Facebook und Orange. Deutschland ist durch Matthias Löhrl vom Bundesministerium für Wirtschaft (BMWI) vertreten[9].
5. Treffen der Telecommunication Standardization Advisory Group (TSAG), Genf, 10. – 14. Februar 2020
Das 5. Treffen der Telecommunication Standardization Advisory Group (TSAG) fand vom 10. bis 14. Februar 2020 in Genf statt. Die TSAG ist die Dachorganisation der ITU Study Groups und das höchste Organ der ITU-T zwischen der alle vier Jahre stattfindenden „World Telecommunication Standardisation Assembly“ (WTSA). Die nächste WTSA ist für November 2020 in Hyderabad geplant.
Neben dem Entwurf des Berichts der TSAG an die WTSA gab es u.a. auch die Berichte von drei „Focus Groups“ zu den Themen „Quantum Information Technology for Networks (FG-QIT4N)“, „Environmental Efficiency for Artificial Intelligence and other Emerging Technologies (FG-AI4EE)“ und „Technologies for Network 2030 (FG-NET2030) and “new IP”“.
Insbesondere die Berichte zu „Network 2030“ und „New IP“ enthalten dabei brisanten politischen Sprengstoff.
In einem Arbeitspapier für das 4. TSAG-Treffen im September 2019 hatte Huawei Technologies, China Mobile, China Unicom und das chinesische Ministerium für Industrie und Informationstechnologie (MIIT) die Idee eines neuen Internet-Protokolls, das über TCP/IP hinausgeht, eingebracht[10]. Huawei hat diese Idee im Februar 2020 weiter präzisiert und ein „Weißbuch“ zu „Internet 2030: Towards a New Internet for the Year 2030 and Beyond“ vorgelegt. Das Weißbuch argumentiert, dass im kommenden Jahrzehnt die Grenzen zwischen „real“ und „digital“ durch eine „Smart City Infrastruktur“ mit „Augmented and Virtual Reality“ (AR/VR-Anwendungen) so verwischt werden, dass die bestehenden Internet-Protokolle den neuen Anforderungen nicht mehr gerecht werden. Daher müsse ein neues Internet-Protokoll entwickelt werden, das über TCP/IP und IPv6 hinausgeht[11].
In einem Statement widersprach RIPE NCC dem Vorschlag für ein „New IP“. Der Vorschlag stehe im Widerspruch zu den traditionellen Verfahren des „open and bottom-up approachs“ für die Entwicklung von Internet-Protokollen und würde die Arbeit der IETF doublieren und konterkarieren[12]. Die Auseinandersetzung um „New IP“ und „Internet Beyond 2030“ ist mittlerweile zu einer neuen öffentlichen politischen Kontroverse geworden[13].
WSIS Forum & AI for Good Summit, Genf
Die ITU hat am 12. März 2020 bekanntgegeben, dass als Folge der Corona-Krise zwei große ITU-Konferenzen, die für das 2. Quartal 2020 geplant waren, verschoben werden. Das WSIS-Forum, geplant für den 1. - 4. April 2020, wurde auf den 31. August - 4. September 2020 verlegt. Das betrifft auch das als Teil des WSIS-Forums geplante High Level Meeting WSIS+15. Der ITU-Gipfel zur künstlichen Intelligenz (AI for Good Global Summit) ist vom Mai 2020 auf den 21. - 25. September 2020 verlegt worden. Beide Konferenzen werden in Genf stattfinden.