Q1/2021 - Vereinte Nationen
Berufung eines UN-Sonderbotschafters für Technologie, 15. Januar 2021
Am 15. Januar 2021 berief UN-Generalsekretär António Guterres den chilenischen Diplomaten Fabrizio Hochschild zum „UN-Sonderbotschafter für Technologie“ (UN Envoy of Technology)[1]. Guterres hatte die Schaffung eines solchen Sonderbotschafters in seiner „Roadmap for Digital Cooperation“ vom 12. Juni 2021 angekündigt. Der „UN Envoy of Technology“ berichtet direkt an den UN-Generalsekretär. Seine Stellung ist vergleichbar mit der Rolle von Nitin Desai als Internet-Sonderberater von UN-Generalsekretär Kofi Annan von 2003 bis 2010.
- Wenige Tage nach der Ernennung von Fabrizio Hochschild erhoben drei Mitarbeiterinnen des UN-Sekretariats Vorwürfe gegenüber den neu ernannten Sonderbotschafter wegen angeblichen ungebührlichen Verhaltens[2]. Das „Office of Internal Oversight Services“ (OIOS) des UN-Sekretariats hat darauf in Absprache mit dem UN-Generalsekretär eine Untersuchung eingeleitet, die noch andauert. Hochschild hat die Vorwürfe zurückgewiesen und dem OIOS eine enge Kooperation bei der Aufklärung der Vorwürfe angeboten.
- Ungeachtet der vorläufigen Suspendierung von Fabrizio Hochschild hat das Büro des UN Envoy for Technology im Januar 2021 seine Arbeit aufgenommen. Es wird vorübergehend von Maria Francesca Spatolisano geleitet. Frau Spatolisano ist Assistant Secretary-General for Policy Coordination and Inter-Agency Affairs im UN-Department of Economic and Social Affairs (UNDESA). Mitarbeiter des neuen Büros sind Jason Munyan und Anita Tervo die bereits in die Arbeit des UN High Level Panels on Digital Cooperation involviert waren. Das Büro ist primär zuständig für die Umsetzung der Roadmap for Digital Cooperation und die Entwicklung des Multistakeholder-Dialogs innerhalb der Vereinten Nationen[3]. Insofern ist das neue Büro auch zuständig für die von der Roadmap vorgeschlagenen Reform des Internet-Governance-Forums (IGF) und dessen Umbau zu einem IGF+. Zuständig für das IGF innerhalb der UNO war bislang UNDESA unter Leitung des chinesischen stellvertretenden UN-Generalsekretärs, Liu Zhenmin. Inwiefern die Neu-Sortierung von Zuständigkeiten innerhalb des UN-Sekretariats zu Überschneidungen, Rivalitäten oder inter-institutionellen Konflikten führen kann, bleibt abzuwarten. Insbesondere bei strategischen Fragen wie die Schaffung eines „Multistakeholder High Level Bodies“ (MHLB) als Ergänzung zur „Multistakeholder Advisory Group (MAG) des IGFs, die Gestaltung des „IGF Parliamentarian Tracks“ oder der Umsetzung der Empfehlungen der Roadmap zu Cybersicherheit und künstlicher Intelligenz sind Konflikte vorprogrammiert.
Vision Statement von UN-Generalsekretär António Guterres, 23. März 2021
UN-Generalsekretär António Guterres hat sich am 23. März 2021 um eine zweite Amtszeit beworben. In seinem „Vision Statement“ geht er ausführlich auf seine Vorstellungen ein, welche Rolle der UN bei der Entwicklung der digitalen Zusammenarbeit und der Stärkung der internationalen Cybersicherheit spielen soll. Guterres sieht das Thema als eines der fünf großen Weltherausforderungen für die kommenden fünf Jahre[4].In dem „Vision Statement“ setzt sich Guterres auch für eine Reform des Internet-Governance-Forums (IGF) ein und verspricht, die UN zu einer Plattform des Multistakeholder-Dialogs zu Internet Governance zu machen. „It is my intention to bring all stakeholders together, including through a strengthened Internet Governance Forum, to ensure robust implementation of the digital roadmap, which I launched in June 2020 in follow-up to the report of the High-Level Panel on Digital Transformation. The aim is — and has to be — an open, free and secure digital future, in full respect for data protection, privacy and other relevant human rights standards. The digital roadmap promotes such a vision of an inclusive, sustainable digital future by connecting the remaining 4 billion people to the Internet by 2030.“ In seinen Reden vor dem virtuellen Weltwirtschaftsforum in Davos (Januar 2021)[5] und der virtuellen Münchner Sicherheitskonferenz (Februar 2021)[6] bekräftigte Guterres seine Positionen zur Umsetzung der Roadmap.
- Vor dem Davoser Weltwirtschaftsforum (WEF) warnte Guterres von einer geopolitischen Spaltung des Internet, bei dem jede Großmacht ihr „eigenes Internet“ habe, und forderte eine Weiterentwicklung des Multistakeholder-Modells für Internet Governance. „We also see fragility in cyberspace, with no consensus on how to take full profit of the digital world that we all increasingly depend on, while avoiding the risks. We are still far from putting in place the multi-stakeholder mechanisms that would ensure safe and equitable governance of cyberspace“.
- Vor der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) kritisierte er die täglich anwachsende Zahl von Cyberangriffen. Digitale Technologien sollten zum Fortschritt der Menschheit beitragen. Notwendig sei ein totales Verbot von internetbasierten autonomen Waffensystemen. Auch vor der MSC setzte sich Guterres für einen neuen Multilateralismus ein, der alle Stakeholder einbezieht. „We do not need new bureaucracies. But we need to strengthen multilateralism so that the world has: A networked multilateralism that links global and regional organizations, economic and political entities, and an inclusive multilateralism that engages businesses, cities, universities and movements for gender equality, climate action and racial justice.“
Abschlussbericht der Open-Ended Working Group (OEWG), 10. März 2021
Am 12. März 2021 verabschiedete die „Open-Ended Working Group“ (OEWG), die sich unter dem 1. Ausschuss der UN-Vollversammlung seit 2019 mit einem breiten Spektrum von Cybersicherheitsfragen beschäftigte, einstimmig ihren Abschlussbericht (Final Substantial Report)[7]. Dies ist die erste im Konsensus angenommene internationale Vereinbarung zu Cybersicherheit seit 2015. Der Bericht bekräftigt im Wesentlichen die Gültigkeit der existierenden internationalen Normen und Verfahren für die Sicherheit im Cyberspace. Insofern bringt die Einigung keine großen substanziellen Fortschritte. Die Bedeutung des OEWG-Konsensus ist mehr symbolischer Natur, was angesichts der wachsenden Spannungen zwischen den Cybergroßmächten jedoch keine unerhebliche Errungenschaft ist. Neben dem im Konsensus angenommenen „Final Substantial Report“ wird der Vorsitzende der OEWG, der Schweizer Botschafter Jürg Lauber, noch ein „Chair´s Summary“ genanntes Dokument an die 76. UN-Vollversammlung weiterleiten. Im „Chair´s Summary“ sind all jene Themen angesprochen, über die man sich in der OEWG nicht einigen konnte. In einem „Annex“ enthält dieses Dokument darüber hinaus auch kontroverse Textvorschläge, die einzelne OEWG-Mitglieder im Laufe der zweijährigen Verhandlungen unterbreitet hatten. Mit diesem „Chair´s Summary“ und dem „Annex“ wird praktisch die Agenda für die nächste OEWG vorgegeben, die ihre Arbeit gemäß der UN-Resolution 75/243 im Herbst 2021 aufnehmen wird und deren Mandat bis 2025 reicht.
Das Thema Cybersicherheit steht seit 1998 auf der Tagesordnung des 1. Ausschusses der UN-Vollversammlung. Mehrere sogenannte „Group of Governmental Experts“ (UN-GGEs) hatten in den Jahren 2010, 2013 und 2015 Konsensus-Berichte verabschiedet, die durch Resolutionen der UN-Vollversammlung eine breite Unterstützung bekamen. 2017 scheiterte die 5. UN-GGE und konnte keinen Konsensus-Bericht verabschieden. 2019 wurde auf Initiative der USA eine weitere UN-GGE (mit 25 Mitgliedern) gegründet. Parallel dazu formierte sich auf Initiative Russlands die OEWG, an der alle 193 UN-Mitglieder beteiligt sind. Lange wurde diskutiert, ob diese „Bifurkation“ zu Konkurrenz und Überschneidungen führt oder, ob beide Gruppen sich „ergänzen“ könnten. Mittlerweile hat sich herausgestellt, dass die Mehrheit der UN-Mitglieder ein „offenes Gremium“, an dem sie gleichberechtigt beteiligt sind, einer „geschlossenen Expertengruppe“ den Vorzug geben. Die 2019 gegründete 6. UN-GGE wird im 2. Quartal 2021 zu ihrer letzten Sitzung zusammenkommen und über ihren Bericht an die 76. UN-Vollversammlung diskutieren.
Der „Final Substantial Report“ der OEWG enthält 80 Paragrafen, die in sechs Kapitel gegliedert sind: Vorhandene und mögliche Bedrohung; Regeln, Normen und Prinzipien für verantwortungsvolles staatliches Verhalten, Völkerrecht, vertrauensbildende Maßnahmen, Kapazitätsbildung und regulärer institutioneller Dialog:
- Existing and Potential Threats: Festgestellt wird, dass die Zahl der Cyberangriffe wächst und immer neue Formen von Attacken entwickelt werden. „Harmful ICT incidents are increasing in frequency and sophistication and are constantly evolving and diversifying“. Besonders gefährdet sind kritische Infrastrukturen (CI) und kritische Informationsinfrastrukturen (CII). Betont wird die Notwendigkeit „the general availability or integrity of the Internet“ zu schützen. Cyberangriffe hätten das Potential, nicht nur die allgemeine Sicherheit zu gefährden, sondern auch die staatliche Souveränität, die wirtschaftliche Entwicklung und die Sicherheit und das Wohlbefinden der einzelnen Bürger[8].
- Rules, Norms and Principles of Responsible State Behaviour: Der Bericht betont, dass neue Normen und Prinzipien für staatliches Verhalten im Cyberspace nicht bereits existierende Pflichten von Staaten ersetzen, sondern ergänzen. Zu den elf GGE-Normen von 2015 könnten weitere Normen hinzugefügt werden. Genannt werden u.a. die Sicherung von Lieferketten, Verbot des Handels mit Schadsoftware, Verbot der Einführung und der Nutzung von verdeckten schädlichen Funktionen (use of harmful hidden functions) oder die Pflicht zur Berichterstattung über Schwachstellen in Hard- und Software[9].
- International Law: Es gibt eine grundlegende Übereinstimmung, dass die in der Charta der Vereinten Nationen verankerten sieben Völkerrechtsprinzipien (souveräne Gleichheit der Staaten, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Gewaltverzicht, friedliche Streitbeilegung, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten, internationale Zusammenarbeit und Vertragstreue/pacta sunt servanda) für den Cyberspace relevant sind. Verwiesen wird aber darauf, dass es Unterschiede gibt, wie diese Prinzipien verstanden und angewandt werden[10].
- Confidence Buildung Measures: Vertrauensbildende Maßnahmen werden als „freiwilliges Engagement“ von Staaten zur Stärkung der Cybersicherheit bezeichnet. Sie seien ein wichtiger „erster Schritt“ zum Abbau von Misstrauen zwischen Staaten, der Vermeidung von Missverständnissen und zum Bau von Brücken zu einer internationalen Zusammenarbeit auf der Basis gemeinschaftlicher Interessen. Eine besondere Rolle sollen dabei die „Computer Emergency Response Teams“ (CERTs) spielen. Aufgebaut werden soll ein globales Netzwerk der sogenannten nationalen „Points of Contacts (PoCs)[11].
- Capacity Building: Der Bericht konstatiert ein Verständnis-Defizit bei Regierungen und Diplomaten im Umgang mit den Herausforderungen im Bereich der Cybersicherheit, insbesondere hinsichtlich der technischen Aspekte. „Capacity-building helps to develop the skills, human resources, policies, and institutions that increase the resilience and security of States so they can fully enjoy the benefits of digital technologies“. Entsprechende Weiterbildungsprogramme sollten nachhaltig, faktenbasiert, transparent, technische neutral und ergebnisorientiert sein sowie auf die spezifischen Bedürfnisse der jeweiligen Zielgruppe zugeschnitten werden. Sie sollten Menschenrechte und grundlegende Freiheiten respektieren, gendersensitiv, inklusiv, universell und diskriminierungsfrei sein. Vertraulichkeit im Umgang mit sensiblen Informationen müsse gewährleistet werden. Eine besondere Rolle bei Weiterbildungsprogrammen kommt den nationalen CERTS zu[12].
- Regular Institutional Dialogue: Der Bericht bekräftigt die Sinnhaftigkeit eines regulären institutionellen Dialogs zu Cybersicherheit im Rahmen der Vereinten Nationen. Er betont, dass die primäre Verantwortung für Cybersicherheit in den Händen von Regierungen liegt, anerkennt aber den konstruktiven Beitrag nicht-staatlicher Stakeholder aus der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft sowie der akademischen und technischen Community. Ein solcher Dialog kann das Bewusstsein über die Notwendigkeit der Stärkung von Cybersicherheit fördern, Vertrauen bilden und zu Lösungen führen in Bereichen, in denen es noch keine Übereinstimmung zwischen den Staaten gibt. Verwiesen wird auf das sogenannte „Programm of Action“ (PoA), dass eine Gruppe westlicher Staaten eingereicht hatte und das als Blaupause für die Aufstellung einer Tagesordnung der neuen OEWG gelten kann[13].
- Conclusion: Bis zum letzten Moment war umstritten, ob der Bericht den Verweis auf die Möglichkeit der Ausarbeitung eines neuen „rechtlich bindenden Instruments“ zu Cybersicherheit enthalten soll. Darauf hatten insbesondere China und Russland gedrängt. Die im Bericht gewählte Formulierung „Part of the value of this exchange is that diverse perspectives, new ideas and important proposals were put forward even though they were not necessarily agreed by all States, including the possibility of additional legally binding obligations“ ist für alle Optionen offen. In der Abschlusssitzung hatten westliche Staaten bedauert, dass der Bericht keine Verweise auf die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht enthält. Damit sind diese Themen aber nicht vom Tisch. Entsprechende Verweise finden sich im Text des „Chair´s Summary“ und werden auf der Agenda der neuen OEWG wieder auftauchen[14].
Der „Chair´s Summary“ enthält 45 Paragrafen, die der Struktur des „Final Substantial Report“ folgen. Diese „Zusammenfassung des Vorsitzenden“ verweist auf die „universelle Relevanz“ des Themas und darauf, dass es in den zweijährigen OEWG-Verhandlungen eine „Vielzahl von Perspektiven, Ideen und Vorschlägen“ gegeben habe, die zukünftig einfließen werden in die schrittweise Entwicklung eines „global framework of cooperation measures to address existing and potential threats in the sphere of ICTs.“ Botschafter Jürg Lauber verweist darauf, dass einige Staaten die größte Gefahr in der Entwicklung offensiver Cyberkapazitäten und einer Militarisierung des Cyberspace sehen, andere indes die Anwendung solcher Kapazitäten, deren Entwicklung man jedoch nicht verhindern könnte. Es sei nicht die Technologie, sondern deren Missbrauch, den man unterbinden müsse[15]. Im Bericht des Vorsitzenden werden kontroverse Fragen wie die Zuordnung von Cyberangriffen (Attribution), die Geltung des humanitären Völkerrechts in Friedenszeiten, die Rolle von individuellen Menschenrechten und Grundfreiheiten, das Problem der Gültigkeit des Rechts auf Selbstverteidigung im Cyberspace (Artikel 51 der UN-Charta) als Konsequenz auf einen Cyberangriff, der eine Verletzung des Gewaltverzichtsprinzips (Artikel 2.4 der UN-Charta) darstellt, angesprochen. Der Bericht anerkennt die primäre Verantwortung von Regierungen bei der Gewährleistung von Cybersicherheit, hebt aber die Bedeutung eines „Multistakeholder-Ansatzes“ auch bei Cybersicherheitsfragen hervor. Notwendig sei ein „cross-sectoral, holistic and multi-disciplinary approach“. Die Frage eines neuen völkerrechtlichen Instruments zu Cybersicherheit sollte zukünftigen Verhandlungen im Rahmen der OEWG überlassen werden, deren Mandat nach der UN-Resolution 75/240 vom 3. Dezember 2020 jetzt bis 2025 ausgedehnt wurde.
Der „Annex“ enthält 16 Vorschläge von einzelnen Staaten oder Staatengruppen, unter anderem von China, Russland, den USA, der EU, dem Iran, Indien, Kuba und den nichtpaktgebundenen Staaten[16]:
- Kanada: Der kanadische Vorschlag wählt einen „ganzheitlichen Ansatz“ (holistic approach) und enthält in elf Kapitel sehr detaillierte Vorschläge für alle mit dem Thema Cybersicherheit zusammenhängenden Probleme. Das betrifft auch das Thema „Menschenrechte“, über das im „Final Substantial Report“ keine Einigung erzielt werden konnte. Nach Ansicht Kanadas ist Cybersicherheit ohne Gewährleistung von Menschenrechten, einschließlich des Rechts auf Schutz der Privatsphäre und des Rechts auf Meinungsäußerungsfreiheit, nicht erreichbar. In dem Vorschlag wird auch die besondere Rolle der Zivilgesellschaft hervorgehoben, die als „Watchdog“ mitwirken kann, dass Staaten ihre völkerrechtlichen Pflichten im Cyberspace erfüllen[17].
- China: An der Spitze des chinesischen Vorschlages steht die Stärkung der staatlichen Souveränität im Cyberspace. Die OEWG müsse auch Vereinbarungen treffen zum Schutz von kritischen Infrastrukturen, zu Datensicherheit, zur Sicherung von Zulieferketten und zum Kampf gegen Terrorismus. Gefordert wird auch, dass sich „Staaten“ gleichberechtigt am Management und der Verteilung von kritischen Internet-Ressourcen wie Domainnamen und IP-Adressen beteiligen können[18].
- Kuba: Der kubanische Vorschlag fordert Schutzmaßnahmen für Länder, die einseitigen Attacken von feindlich gesinnten Staaten ausgesetzt sind. Gefordert wird auch ein einheitliches Verständnis darüber, was konkret ein „Cyberangriff“ ist[19].
- Iran: Der iranische Vorschlag fordert spezielle staatliche Maßnahmen gegen private Unternehmen, einschließlich der großen Internet-Plattformen, die durch Aktivitäten in einem Land einen „extraterritorial impact“ in einem anderen Land haben. Der Iran fordert auch, dass Staaten nicht durch Eingriffe in Lieferketten die Souveränität anderer Staaten beeinträchtigen dürften[20].
- Niederlande: Die Niederlande fordern spezielle Maßnahmen zum Schutz des öffentlichen Kerns des Internet (Public Core of the Internet) und verlangt von Staaten, auf Angriffe auf die technische Infrastruktur des Internet zu verzichten[21].
- Non-Aligned Movement: Die Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten fordert Maßnahmen, die verhindern, dass der Cyberspace zu einer „arena of conflict“ wird. ICT-Technologien müssten zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung beitragen und helfen, die digitale Spaltung zu überwinden. Gestärkt werden müsse der „Multilateralismus“ auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen[22].
Ein besonders strittiges Thema während der Verhandlungen war die Beteiligung von nicht-staatlichen Akteuren. Im Abschlussbericht wird mehrfach auf die primäre Verantwortung von Regierungen bei der Gewährleistung von internationaler Cybersicherheit verwiesen. Es wird aber auch auf die Nützlichkeit der Beiträge nicht-staatlicher Akteure – z.B. bei den informellen Konsultationen im Dezember 2019 – verwiesen. Paragraf 71 des Berichts verweist darauf, dass es bei einem zukünftigen institutionellen Dialog auch darum gehen müsse, Mechanismen für ein Engagement nicht-staatlicher Stakeholder zu finden (States affirmed the importance of identifying appropriate mechanisms for engagement with other stakeholder groups in future processes). Der ehemalige kanadische Botschafter Paul Meyer kritisierte jedoch die entsprechenden Passagen zum Multistakeholder-Modell im OEWG-Abschlussbericht als zu schwach und völlig unkonkret. Viele Regierungen würden lediglich „Lippenbekenntnisse“ zum Multistakeholder-Modell abgeben. Der ins Auge gefasst „appropriate mechanism“ verpflichte die Staaten zu nichts und gäbe nicht-staatlichen Stakeholdern keinerlei Rechte, Gehör zu finden oder an zukünftigen Verhandlungen direkt oder indirekt beteiligt zu werden. Es müsse auch gewährleistet werden, dass nicht-staatliche Akteure, die keine ECOSOC-Akkeditierung haben, sich an zukünftigen OEWG-Verhandlungen beteiligen können[23].
Am 25. März 2021 veröffentliche das OEWG Sekretariat ein knapp 100-seitiges Kompendium, indem Regierungen ihre Positionen zum OEWG-Prozess und dessen Zukunft ausführlich darlegen[24].
Neuer Zeitplan für Verhandlungen für eine UN-Konvention gegen Cyberkriminalität, 01. März 2021
Die 74. UN-Vollversammlung hatte mit einfacher Mehrheit entscheiden, die Arbeit an einer UN-Konvention gegen Cyberkriminalität aufzunehmen. Die ursprünglich für den August 2020 vorgesehene und dann auf den 22. Januar 2021 verschobene konstituierende Sitzung des zwischenstaatlichen „Ad Hoc Committee to Elaborate a Comprehensive International Convention on Countering the Use of Information and Communications Technologies for Criminal Purposes“ wurde am 15. Januar 2021 erneut verschoben. Die Sitzung soll jetzt vom 22. – 24. Mai 2021 stattfinden. Die Bildung des Ad-hoc-Komitees war auf Initiative Russlands mit der UN-Resolution 74/247 am 27. Dezember 2019 von der 74. UN-Vollversammlung beschlossen wurden[25].
Die westlichen Länder hatten gegen die UN-Resolution 74/247 gestimmt. Aus ihrer Sicht wäre eine „Globalisierung“ der Budapester Konvention gegen Cyberkriminalität vom November 2001 sinnvoller gewesen. Die Budapester Konvention wurde zwei Monate nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York verabschiedet. Sie wird vom Europarat verwaltet, steht aber allen UN-Mitgliedern zur Unterschrift offen. Bis zum März 2021 hatten aber nur 65 Länder die Budapest Konvention ratifiziert. Der Europarat hatte bereits in den frühen 1990er Jahren mit Verhandlungen zu einer Konvention gegen Computerkriminalität begonnen. Diese Verhandlungen, an denen auch die USA beteiligt waren, zogen sich aber hin und lange Zeit schien kein Konsensus möglich. Das änderte sich nach den Anschlägen vom 11. September 2001. Binnen zwei Monaten wurden strittige Fragen geklärt und die Konvention konnte im November 2001 in Budapest unterschrieben werden. Russland als Mitglied des Europarates lehnte die Budapester Konvention jedoch ab. Russland hat insbesondere Vorbehalte gegen Artikel 32, der nationalen Strafverfolgungsbehörden ermöglicht, auch ohne ein formales Rechtshilfeersuchen, Online-Ermittlungen jenseits der eigenen Jurisdiktion durchzuführen. Auch China lehnte eine Unterzeichnung der Budapester Konvention ab. Entwicklungsländer, vor allem Indien, bemängelten, dass sie nicht in die Ausarbeitung der Texte einbezogen worden waren. Die Afrikanische Union arbeitete eine eigene Konvention gegen Cyberkriminalität aus.
Ob der neue Anlauf in der UN zur Ausarbeitung eines globalen Instruments zu einem erfolgreichen Ende führt, ist schwierig vorherzusagen. Zwar gibt es einen generellen Konsens, gegen die gerade in der Pandemie angewachsene Cyberkriminalität global koordiniert vorzugehen, ein Hauptstreitpunkt wird dabei die Definition der Verbrechenskategorien sein. Das betrifft weniger Tatbestände wie Angriff auf Netzwerke und kritische Infrastrukturen, Kinderpornografie und Geldwäsche als vielmehr sogenannte „inhaltsbezogene Straftaten“. Zwischen demokratischen und autokratischen Regierungen bestehen grundsätzlich andere Vorstellungen darüber, was unter „terroristischer“ oder „extremistischer“ Propaganda zu verstehen ist. Weitere Streitpunkte sind, wo diese Verhandlungen geführt werden und inwieweit nicht-staatliche Stakeholder in sie eingebunden werden sollen. Die westlichen Länder bevorzugen Wien als den zukünftigen Verhandlungsort. Andere Regierungen plädieren für New York. Der vorläufige Zeitplan des „Ad Hoc Committees“ sieht acht Sitzungen für den Zeitraum bis Juni 2024 vor.