Q3/2020 - Internet-Fragmentierung

Cybersouveränität

Die amerikanisch-chinesischen geo-politischen Auseinandersetzungen haben das Potenzial gravierender Konsequenzen für ein offenes, freies, interoperables, sicheres und unfragmentiertes Internet, wie es sich in den letzten 50 Jahren entwickelt hat. Nachdem die chinesische Regierung anfangs der 2000er-Jahre beim UN-Weltgipfel erkennen musste, dass ihre Vorstellungen von einer über die UNO organisierte staatliche Kontrolle für das Internet nicht mehrheitsfähig ist, entwickelte sie seit Beginn der 2010er-Jahre ein in den Multilateralismus des UN-Systems eingebettetes und auf den Völkerrechtsprinzipien der UN-Charta basierendes Konzept einer „Cybersouveränität“ , die in ihrer Endkonsequenz zu einer „Re-Nationalisierung“ und damit Fragmentierung des globalen und grenzenlosen Internets führen kann. Das vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping bei der 2. World Internet Conference“ (WIC) in Wuzhen im Jahr 2015 verkündete Prinzip der „Cybersouveränität“ findet vor allem in Staaten des globalen Südens wachsende Unterstützung und wird zur Legitimierung bei der Einführung von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen für ihr jeweiliges „nationales Internet-Segment“ benutzt. Das betrifft die Verabschiedung von Gesetzen, die sich gegen unerwünschte Inhalte – von Fake News über Hate Speech und Terrorismuspropaganda bis zu unliebsamer Kritik an Regierungen – richten, sowie Gesetze zur Stärkung der nationalen Digitalwirtschaft (Data Localisation, Digitalsteuer). Neben der Verwendung des Begriffs „digitale Souveränität“ taucht auch der Begriff des „nationalen Internet-Segments“ immer häufiger im alltagspolitischen Sprachgebrauch auf. Dabei sind weder „digitale Souveränität“ noch „nationales Internet-Segment“ eindeutig definiert. Beide Begriffe stehen für ein breites Spektrum verschiedener Sachverhalte und können für völlig gegensätzliche politische Ziele instrumentalisiert werden.  

Technische, wirtschaftliche und politische Dimension

Die Diskussion um eine Fragmentierung des Internets ist nicht neu. Sie hat eine technische, wirtschaftliche und politische Komponente[1]

  • Bereits in den 1990er-Jahren wurde vor einer „Balkanisierung des Internets“ gewarnt (mit Blick auf den Zerfall Jugoslawiens in sich feindlich gegenüberstehende Teilrepubliken). Die damaligen Argumente – z.B. zum Aufbau einer alternativen Root – waren jedoch primär technischer Natur und verschwanden mit der breiten Akzeptanz der sogenannten „Legacy“ or „Authoritative Root“ und der weltweiten Nutzung des einheitlichen Domain Name Systems.
  • In den 2000er-Jahren wurde Internet-Fragmentierung mehr als wirtschaftliches Problem im Zusammenhang mit sogenannten „Walled Gardens“ großer Internetdienstleister gesehen. Diese wollten ihre Kunden innerhalb der firmeneigenen Netzwerke halten. Mit dem Argument der „Kundenbindung“ hebelten sie das dem Internet zugrunde liegen Prinzip der Interoperabilität zwischen Netzwerken und Domains aus, indem sie einen komplikationslosen Wechsel von einem Anbieter zu einem anderen Anbieter erschwerten.
  • Die politische Diskussion um eine Internet-Fragmentierung begann gleichfalls in den 2000er-Jahren mit dem Aufbau der „Great Firewall“ in China und der Auseinandersetzung zwischen der ITU und ICANN im Rahmen des WSIS-Prozesses. Sie verschärfte sich in den 2010er-Jahren, als Russland das Konzept eines „nationalen Internet-Segments“ in den ITU-Verhandlungen zu einem neuen Vertrag über internationale Telekommunikation (ITR) bei der World Conference on International Telecommunication (WCIT) im Jahr 2012 einbrachte. Das Konzept fand zwar keinen Eingang in die offiziellen Konferenzdokumente, wurde aber seither von mehr und mehr Ländern übernommen.

Internet Bifurcation

Die mögliche Fragmentierung des Internets in „nationale Segmente“  ist dabei ein in sich widersprüchlicher Prozess, da Länder, die sich auf „Cybersouveränität“ berufen, um Zensur und Protektionismus zu rechtfertigen, die Vorteile eines interoperablen, unfragmentierten und globalen Internets nicht missen wollen.

Für eine wachsende Zahl von Ländern ist dabei die chinesische Firewall, die eine nahezu 100-prozentige Kontrolle der nationalen Internet-Kommunikation ermöglicht, ohne dabei eine Abkopplung vom globalen Internet in Kauf nehmen zu müssen, eine Quelle der Inspiration. Das russische Modell der Schaffung einer nationalen Rechtsgrundlage für eine Abkopplung des „nationalen Segments“ im Falle einer globalen Internet-Krise findet hingegen weniger Nachahmer im globalen Süden.

Die „Doppelstrategie“, die vor allem die chinesische Regierung in der globalen Internet-Governance-Debatte verfolgt, zielt primär nicht auf eine Fragmentierung des Internets, sondern eher auf eine Re-Organisierung des globalen Internets in „den Farben Chinas“. Das wiederum trägt das Risiko einer „Spaltung“ des Internets in sich. Für diese Entwicklung beginnt sich der Begriff der „Internet Bifurcation“ (Internet-Abgabelung) einzubürgern. Dabei wird praktisch auf der Basis des bestehenden interoperablen „Netzwerks von Netzwerken“ und dem existierenden Domain Name System (DNS) ein weiterer Layer aufgesetzt, bei dem sich einzelne Elemente vom globalen Internet „abgabeln“. Das „abgegabelte Segment“ kann leichter staatlich kontrolliert werden und ist nicht mehr ohne weiteres interoperabel mit anderen „Segmenten“.  Vergleichbar sind solche Konstruktionen mit den oben genannten „Walled Gardens“ großer Internet-Unternehmen, die es Kunden erschweren, problemlos von einem Anbieter zu einem anderen Anbieter zu wechseln. Auch die in einer Focus Group der ITU 2019 begonnene Diskussion zu einem neuen Internet-Transport-Protokoll (New IP), das das TCP/IP-Protokoll in einem Zeitraum nach 2030 ersetzen könnte, passt zu dieser Tendenz einer möglichen „Internet Bifurcation“. 

Bei einer zunehmenden Polarisierung zwischen den USA und China im Bereich der Digitalpolitik läuft Europa Gefahr, in eine Zwickmühle und zwischen die Fronten zu geraten.

Bei seiner Rede auf dem IGF in Paris im November 2018 hatte der französische Präsident Emmanuel Macron deutlich gemacht, dass Europa weder eine vom Staat kontrollierte chinesische Variante des Internets haben möchte noch eine rein vom Markt dominierte kalifornische Variante. "I believe we need to move away from the false possibilities we are currently offered, whereby only two models would exist: a complete self-management, without governance, and a compartmented Internet, entirely monitored by strong and authoritarian states." Und er fügte hinzu: "To be very politically incorrect, we are seeing two types of Internet emerge: there is a Californian form of Internet, and a Chinese Internet." Seine Schlussfolgerung war, dass es notwendig ist „to take a new path where governments, along with Internet players, civil societies and all actors are able to regulate properly."[2] Europa setze auf Rechtsstaatlichkeit.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte diese Position bei ihrer Rede auf dem IGF in Berlin im November 2019 präzisiert, indem sie konkrete rechtsstaatliche Leitlinien für die Freiheit des Internets forderte, klarstellte, dass digitale Souveränität nicht Protektionismus und Zensur bedeute und dass es bei einer Fragmentierung des Internets nur Verlierer geben könne. „Denn was wären die Folgen, wenn wir auf Abschottung setzen würden? Die Folgen eines zunehmend zersplitterten Internets sind aus meiner Sicht nie gut. Sie können vielfältig sein, aber sie sind nie gut. Die globale Infrastruktur könnte instabil und anfällig für Attacken werden. Es gäbe mehr Überwachung. Staatliches Filtern und Zensur von Informationen würden zunehmen. Vielleicht würde sogar das Internet- und Mobilfunknetz abgeschaltet, um die Kommunikation der Bevölkerung zu verhindern“.[3]

In ihrer Rede zur Lage der Union im September 2020 forderte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mehr europäische digitale Souveränität und warnte, dass Europa zum Spielball Dritter werden könnte, wenn es sich nicht selbst an die Spitze der Ausarbeitung von globalen Regeln stelle. „Wir brauchen einen gemeinsamen Plan für das digitale Europa mit klar definierten Zielen bis 2030 für Bereiche wie Konnektivität, digitale Kompetenzen und öffentliche Verwaltung. Und mit klaren Prinzipien: das Recht auf Privatsphäre und Zugang, freie Meinungsäußerung, freier Datenfluss und Cybersicherheit. Um das zu erreichen, muss Europa jetzt führen oder es wird lange anderen folgen müssen, die diese Standards für uns setzen. Deswegen müssen wir schnell handeln.“[4]

Europa hat kein Interesse an einer „Internet Bifurcation“. Die EU ist interessiert an einem einheitlichen, offenen, sicheren, freien, interoperablen und unfragmentierten Internet. Europa ist tief verwurzelt in den westlichen Werten, zu denen sich die USA bekennen. Die Europäische Union hat aber auch ein strategisches Interesse an einer guten Partnerschaft mit China. Angesichts der Polarisierung der globalen Internet-Debatte findet sich Europa jedoch zunehmend in einer Situation, die der entwickelter Staaten in Südostasien ähnlich ist und die der Premierminister von Singapur, Lee Hsien Loong, in einem Artikel in der 2020er August-Ausgabe von „Foreign Affairs“ so zusammengefasst hat: „Asia-Pacific see it in their best interests to maintain good relations with both China and the US while supporting other regional powers. The entire region could pay a huge price if it has to pick a side, or if nations are forced to choose self-preservation over multilateral cooperation."[5]

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Q3/2020
  1. [1] Vinton Cerf, William Drake, Wolfgang Kleinwächter, Internet Fragmentation: An Overview, World Economic Forum, Davos, 23. Januar 2016: „A growing number of thought leaders have expressed concerns over the past two years that the Internet is in some danger of splintering or breaking up into loosely coupled islands of connectivity. A number of potentially troubling trends driven by technological developments, government policies and commercial practices have been rippling across the Internet’s layers, from the underlying infrastructures up to the applications, content and transactions it conveys. But there does not appear to be a clearly defined, widely shared understanding of what the term, fragmentation, does and does not entail. The growth of these concerns does not indicate a pending cataclysm. The Internet remains stable and generally open and secure in its foundations, and it is morphing and incorporating new capabilities that open up extraordinary new horizons, from the Internet of Things and services to the spread of block chain technology and beyond. Moreover, the increasing synergies between the Internet and revolutionary changes in other technological and social arenas are leading us into a new era of global development that can be seen as constituting a fourth industrial revolution. But there are challenges accumulating which, if left unattended, could chip away to varying degrees at the Internet’s enormous capacity to facilitate human progress. We need to take stock of these, and to begin a more structured dialogue about their nature, scope and distributed collective management. The purpose of this document is to contribute to the emergence of a common baseline understanding of Internet fragmentation. It maps the landscape of some of the key trends and practices that have been variously described as constituting Internet fragmentation and highlights 28 examples. A distinction is made between cases of technical, governmental and commercial fragmentation. The technical cases generally can be said to involve fragmentation “of” the Internet, or its underlying physical and logical infrastructures. The governmental and commercial cases often more directly involve fragmentation “on” the Internet, or the transactions and cyberspace it conveys, although they also can involve the infrastructure as well. With the examples cited placed in these three conjoined baskets, we can get a holistic overview of their nature and scope and more readily engage in the sort of dialogue and cooperation that is needed.“ In: https://www.weforum.org/reports/internet-fragmentation-an-overview
  2. [2] IGF 2018 Speech by French President Emmanuel Macron, Paris, 13. November 2018, in: https://www.intgovforum.org/multilingual/content/igf-2018-speech-by-french-president-emmanuel-macron
  3. [3] Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Eröffnung des 14. Internet Governance Forums 26. November 2019 in Berlin, in: https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/rede-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-zur-eroeffnung-des-14-internet-governance-forums-26-november-2019-in-berlin-1698264
  4. [4] State of the Union Address by President von der Leyen at the European Parliament Plenary, Brüssel, 16. September 2020, in: https://ec.europa.eu/info/strategy/strategic-planning/state-union-addresses/state-union-2020_de
  5. [5] Lee Hsien Loong, The Endangered Asian Century America, China, and the Perils of Confrontation, Foreign Affairs, August/September 2020, in: https://www.foreignaffairs.com/articles/asia/2020-06-04/lee-hsien-loong-endangered-asian-century