Q4/2020 - NATO

Abschlussbericht NATO 2030: United for a New Era, 25. November 2020

Am 25. November präsentierte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Bericht „NATO 2030: United for a New Era“. Der 70-seitige Bericht mit 88 Empfehlungen wurde von einer 10-köpfigen „Reflection Group“ unter Leitung von Thomas de Maizière, ehemaliger deutscher Verteidigungsminister, und Aaron Wess Mitchell, Leiter der Abteilung für europäische und eurasische Angelegenheiten im US-Außenministerium, erarbeitet. Die „Reflection Group“  ̶  hochrangige Militärexperten aus den NATO-Ländern  ̶  war von Jens Stoltenberg nach dem NATO-Gipfel im Dezember 2019 in London mit der Aufgabe betraut worden, die Herausforderung der NATO für das kommende Jahrzehnt zu identifizieren. Der Bericht setzt sich u.a. mit den Folgen der Digitalisierung für den militärischen Bereich und möglichen „Cyberkriegen“ auseinander.

Der Bericht geht davon aus, dass die Welt sich zu Beginn der 2020er-Jahre in einer neuen Phase befindet, die sich erheblich von den 30 Jahren, die seit dem Ende des „kalten Krieges“ vergangen sind, unterscheidet. Man sei mit einer Rückkehr von geopolitischen Auseinandersetzungen konfrontiert. „It will be a world of competing great powers“. Die neuen Großmachtkonflikte würden dabei immer weniger mit der Drohung des Einsatzes von klassischen  ̶ konventionellen oder atomaren  ̶  Waffen (bullets and battleships), sondern mit digitalisierten und internet-basierten Systemen (bytes and big data) ausgetragen. Die NATO muss sich im digitalen Zeitalter mit Gegnern auseinandersetzen, die aggressive Ziele verfolgen und deren Politik auf einem anderen Wertesystem basiert als den im NATO-Vertrag von 1949 verankerten Prinzipien. In Erinnerung an den „Harmel-Bericht“ von 1967 fordern die Autoren des Berichts eine NATO-Doppelstrategie, die „Verteidigung und Abschreckung“ verbindet mit „Entspannung und Rüstungskontrolle“. Die Kriege der Zukunft seien „hybride Kriege“. Der Cyberspace sei ein wichtiger militärischer Operationsraum, in dem KI-basierte Waffensysteme eine immer größere Rolle spielen. Jahrzehntelang seien die NATO-Staaten an der Spitze bei der Entwicklung neuer Technologien im militärischen Bereich gewesen. Die Fortschritte, die Russland und vor allem China in den letzten Jahren gemacht haben, würden diesen Vorsprung bedrohen. Die NATO müsse daher mehr in Forschung und Entwicklung investieren. Sie müsse enger mit dem privaten Sektor und der akademischen Welt zusammenarbeiten. Früher sei Innovation aus dem militärischen Bereich gekommen und hätte dann auf die Wirtschaft übergestrahlt (spill over). Heute sei das umgekehrt. Revolutionäre Innovation – z.B. im Bereich künstlicher Intelligenz – komme aus der Wirtschaft.

Die „Reflection Group“ gibt insgesamt 88 Empfehlungen für 12 Bereiche mit strategischer Bedeutung, darunter die Bereiche „Emerging and Disruptive Technologies“ und „Hybrid and Cyber Threats“:

  • Der Bericht sieht "Emerging and Disruptive Technologies" (EDTs) als eine Bedrohung, aber auch als eine Möglichkeit. Die NATO müsse bei diesen Technologien führend sein. Genannt werden u.a. „big data, Artificial Intelligence, autonomous capabilities, space, cloud technologies, hypersonic and new missile technologies, quantum technologies and biotechnologies, and human augmentation/enhancement“. Basierend auf der beim Londoner NATO-Gipfel 2019 verabschiedeten „EDT Roadmap“ sollte die NATO alle Möglichkeiten nutzen, um über bisherige Formen von militärischer Forschung und Entwicklung hinaus zu denken und in eine Zusammenarbeit mit privaten Unternehmen, akademischen Einrichtungen und nicht-staatlichen Organisationen (NGOs) intensivieren. Vorgeschlagen wird ein „Gipfeltreffen“ zwischen Regierungen und Wirtschaft (Digital Summit of Governments and Private Sector), um militärische relevante Defizite bei der Entwicklung, Einführung und Anwendung von künstlicher Intelligenz zu identifizieren und um sich mit dem wachsenden „digitalen Authoritarianism“ auseinanderzusetzen. Gefordert wird auch die Schaffung einer neuen NATO-Behörde nach dem Vorbild der US-amerikanischen DARPA[1]. Gefordert wird aber auch, neben den notwendigen Aufrüstungsmaßnahmen parallel eine Agenda für EDT-Abrüstungsverhandlungen zu entwickeln. Damit soll der Zugang potenzieller Gegner zu solchen neuen Waffensystemen begrenzt und eine globale strategische Stabilität hergestellt werden[2].
  • Zum Thema „Hybrid and Cyberthreats“ stellt die „Reflection Group“ fest, dass Methoden wie Propaganda, Täuschungen, Sabotage und andere nicht-militärische Taktiken, die darauf zielen, den Gegner “von innen“ zu zersetzen, nichts Neues sind, aber im digitalen Zeitalter eine völlig neue Wirkungskraft entfalten. Die NATO habe 2016 den Cyberspace als einen eigenständigen militärischen Operationsraum  ̶  wie Land, Luft und See  ̶ anerkannt und darauf mit dem „Cyber Defence Pledge“ und „Counter Hybrid Support Teams“ (CHST) reagiert. Die NATO brauche jetzt aber ein einheitliches politisches Rahmenwerk, das kläre, wie man auf Cyberangriffe in einer Krise reagiert. Unklarheiten über mögliche Reaktionen der NATO könnten zu Fehleinschätzungen beim Gegner und zu ungewollten Eskalationen führen. Die NATO hat erklärt, dass Artikel 5 des NATO-Vertrages auch für Cyberangriffe gelte. Artikel 5 regelt die kollektive Verteidigung und macht klar, dass ein Angriff auf ein Land wie ein Angriff auf alle NATO-Mitglieder zu werten ist und damit den „Bündnisfall“ auslöst. Viele Zwischenfälle würden heute aber unterhalb der Schwelle eines als „militärisch“ einzustufenden Angriffs entstehen. Die „Reflection Group“ empfiehlt daher den NATO-Staaten, mehr Gebrauch zu machen von Artikel 4. Artikel 4 gibt den Staaten das Recht, Bündnis-Konsultationen einzufordern, wenn es sich bedroht fühlt. Bei den Konsultationen könnten abgestimmte Reaktionen unterhalb der Schwelle militärischer Maßnahmen beschlossen werden. Dies könnte das Arsenal einer „Abschreckung“ (deterrence) erweitern. Insgesamt müsse die NATO auch ein präziseres Instrumentarium entwickeln, wie es mit hybriden Bedrohungen umgeht, um potenziellen Angreifern zu verdeutlichen, mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist. Dies schließe auch Aktionen ein gegen Desinformationskampagnen. Die NATO benötige einen „Instrumentenkasten“ (political deterrence toolbox suitable for hybrid threats)[3].  

Der Bericht soll sowohl auf der Ministerebene als auch beim nächsten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO-Mitglieder im Jahr 2021 diskutiert werden. Einen Termin für den vorgeschlagenen „NATO-Digitalgipfel“ gibt es noch nicht[4].

Rede des stellvertretenden NATO-Generalsekretärs, Mircea Geoană, auf der Dialog-Konferenz mit GLOBSEC, 25. September 2020 (virtuell)

Bei einer Konferenz, die die NATO gemeinschaftlich mit GLOBSEC organisiert hat, erläuterte der stellvertretende NATO-Generalsekretär Mircea Geoană die Empfehlungen der Studie „NATO 2030“. Er warf China und Russland vor, das digitale Wettrüsten anzuheizen mit Hypersonic-Raketen, autonomen Waffensystemen, künstlicher Intelligenz und Cyberattacken. Die NATO könne es sich nicht leisten, einen „zweiten Sputnik-Schock“ zu erleben wo man überrumpelt und am Schluss besiegt wird. „We cannot risk a second „Sputnik Moment“, where we suddenly find ourselves outpaced and – god forbid – outgunned“. Neue Technologien  ̶  künstliche Intelligenz, Gesichtserkennung, biometrische Überwachung, Big Data – transformiere die Art und Weise, wie Kriege geführt und gewonnen werden. Die NATO, in deren Mitgliedsstaaten eine Milliarde Menschen leben, müsse stärker alle Ressourcen – auch aus der Wirtschaft und dem akademischen Bereich – mobilisieren, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Entscheidungen zu neuen Technologien seien heute nicht mehr nur kommerzielle, sondern auch politische Entscheidungen. „Whether – and which tech – to pursue is ultimately not only a commercial but a political choice. It has profound implications for our strategic direction and for our security. And for the one billion citizens who are living in NATO countries. In the past, these choices were largely the preserve of governments. But increasingly they are made – or shaped – by the private sector. This is why the public sector needs to be more “tech-ready.” And the tech sector needs to be more “security-ready.” As NATO Allies we need to think about what kind of technologies we need to keep us safe in the future. And the private sector, we encourage them and I encourage you to think about what kind of societies they want to serve in 2030 and beyond.“[5]  

NATO-Cybermanöver, 16. November 2020

NATOs bislang größtes Cybermanöver fand am 16. November 2020 statt. An ihm beteiligten sich alle 27 NATO-Mitglieder sowie die Nicht-NATO-Mitglieder Finnland, Irland, Schweden, Schweiz und die EU. Insgesamt waren 1.000 Offizielle und Experten involviert. NATO-Sprecher Oana Lungescu sagte, dass das Manöver demonstriere, dass die NATO in der Lage sei, auf jeden Cyberangriff in Übereinstimmung mit den Normen des Völkerrechts zu reagieren und die NATO-IT-Netzwerke 24 Stunden am Tag zu schützen. Cyberangriffe würden immer komplexer. “NATO is committed to defend all Allies in cyberspace, as well as on land, in the air and at sea. A cyber-attack on one Ally can affect all of us. That is why strengthening our cyber defences is a priority for the Alliance.” Das Manöver schloss „real-time responses to incidents, such as attempts to breach classified networks, disruption of communications systems in critical infrastructure and espionage through smartphone applications.“ ein[6]

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Q4/2020NATO
  1. [1] NATO 2030: United for a New Era, Analysis and Recommendations of the Reflection Group Appointed by the NATO Secretary General, 25. November 2020, Kapitel 4.2.3 „Emerging and Disruptive Technologies“: „3. NATO should serve as a crucial coordinating institution for information sharing and collaboration between Allies on the security dimensions of EDTs. At present, no transatlantic coordination tool exists for this purpose. These consultations could, when NATO security requires, be extended to included non-allies that are cleared for intelligence-sharing.; 4. 4. NATO should hold a digital summit of governments and private sector with the aim of identifying gaps in collective defence cooperation in security-related AI strategies, norms and R&D, and safeguarding against the malign and aggressive use of AI, including militarily, and via the spread of digital authoritarianism… 6. NATO should encourage the incorporation of AI into strategic and operational planning. It should exploit the power of AI-driven technologies to enhance scenario planning exercises and long-term preparedness…. 8. NATO should expand cooperation with the private sector, beyond ‘classical’ partners in the defence industry and include a mentoring and training partnership with select tech firms aimed at importing deeper technological know-how into the organisation. Building new partnerships at NATO with the private sector, academia, and NGOs will enable the Alliance to increase awareness, share data, and creatively tap into experiences and knowledge. 10. NATO should consider developing a North Atlantic equivalent of the U.S. Defence Advanced Research Projects Agency (DARPA) or European Defence Fund (EDF) charged with encouraging support for innovation in strategic areas among Allies. Such an entity could be supported by an Advisory Group for Small and Medium Enterprises (SME) to the NATO Industrial Advisory Group (NIAG) to advise the Alliance on how to keep pace with technological change. A key objective for these efforts should be to encourage the development of an AI-focused agenda for R&D within the Alliance.“ In: https://www.nato.int/cps/en/natohq/176155.htm
  2. [2] NATO 2030: United for a New Era, Analysis and Recommendations of the Reflection Group Appointed by the NATO Secretary General, 25. November 2020: Kapitel 4.2.6: Arms Control and Nuclear Deterrence: „9. NATO should develop an agenda for international arms control in key areas of EDT with military application, to include those technologies useful for Allies’ defence capabilities, while seeking to limit access by our adversaries to technologies that could threaten strategic stability in the decade ahead. It should loosely model this effort on the role that NATO played as a catalyst for developing arms control platforms such as the Mutual Balanced Force Reduction in the 1970s that ultimately led to the Conventional Forces in Europe Treaty.“ In: https://www.nato.int/cps/en/natohq/176155.htm
  3. [3] NATO 2030: United for a New Era, Analysis and Recommendations of the Reflection Group Appointed by the NATO Secretary General, 25. November 2020: Kapitel 4.2.11 „Hybrid and Cyber Threats“: „2. Building on the work of the Brussels summit, NATO should strengthen its capacity to support Allies in defending against cyber and hybrid attacks. These attacks may trigger Article 5. Invoking consultation under Article 4 could be used more regularly in the context of hybrid attacks, even when it is not fully clear who is behind an attack (non-attribution). In such situations, Article 4 should be more aggressively used by Allies as a basis for political dialogue and signalling unity. 3. NATO should build greater awareness of the nature of hybrid threats and the orchestrated campaigns behind them. It should build shared terminology and situational awareness through detection, monitoring, and analysis of hybrid threats at both the operational and strategic levels, including via foresight studies and trend anticipation analysis, sharing of best practices, scenario games, and incorporating situations of hybrid conflict in training and exercises. 4. NATO should support Allies in developing a comprehensive response framework for countering hybrid threats. This could be developed as a follow-on to the Report on Enhancing NATO’s Response to Hybrid Threats. It should be approached at both the political-strategic and tactical-operational levels, with particular attention paid to continuously renewing operational concepts. The goal should be to bring NATO’s civilian and military options together in one coherent framework. NATO should continue to support Allies in their efforts to increase resilience in their national societies and robust civil protection. All this should include: • Response options to disinformation aimed at NATO or individual Allies (e.g., ‘divide and rule’ tactics). In a hybrid environment, strategic communications (StratCom) are not crisis-related, but part of an ongoing and overarching narrative that is aligned internally with Allies and externally with partners. This narrative is critical to the credibility of NATO’s deterrence; • Response options to military intimidation/harassment (both physical and cyber). The possibility of escalation should be kept as low as possible, and the response closely aligned with responses in other domains, including those that are not in the NATO toolbox; • Political response options. NATO should seek to structure its role on the international political stage for responding to hybrid threats, in addition to being a military player. It should develop a diplomatic de-escalation menu (via e.g., high-level visits, statements, public press conferences, and activation of Article 4 consultation) and develop a political deterrence toolbox suitable for hybrid threats; • Response options for partner countries, including further development of various forms of support, such as making Counter Hybrid Support Teams available to partners. … 7. NATO must improve its ability to fund, recruit, and continue to train staff on the newest cyber defence measures, and must constantly ensure it has the necessary political and legal framework for addressing these issues.“ In: https://www.nato.int/cps/en/natohq/176155.htm
  4. [4] NATO 2030: United for a New Era, Analysis and Recommendations of the Reflection Group Appointed by the NATO Secretary General, 25. November 2020, in: www.nato.int/cps/en/natohq/176155.htm, siehe auch: deutsche Zusammenfassung: Hauptergebnisse: Ausblick – die NATO 2030, 2. Dezember 2021, in: https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/internationale-organisationen/nato/-/2422690
  5. [5] Keynote speech by NATO Deputy Secretary General Mircea Geoană at the "NATO 2030: NATO-Private Sector Dialogue", organised by NATO and GLOBSEC, 25. November 2020: „ The pandemic is not the only thing having a dramatic impact on our societies. We are on the cusp of unimaginable technological change. At a pace we have never witnessed before. The Coronavirus is often referred to as a black swan event. High impact, but highly improbable. Whereas emerging technology is more like a grey rhino. High impact and highly likely. We all see it coming. Ignoring it – it will be at our own peril. The small smart phone in your pocket is only just entering its teenage period, it was I think 13 years ago the first iPhone was issued. But it already has hundreds of thousands of times more processing power than any of the NASA computers had that put the first man on the moon. Technology has always been key to deterrence and defence. From the bow-and-arrow to the battle-tank, the machine gun to the nuclear missile. Technological dominance has ensured our supremacy, on and off the battlefield. Throughout our 70-year history, NATO Allies have dominated this race. But today that dominance is being challenged, by countries who do not share our values or play by the same rules. Nations like Russia and China are racing to develop new technologies – from hyper-sonic missiles to autonomous systems, to Artificial Intelligence and cyber-warfare. We cannot risk a second ‘Sputnik Moment’, where we suddenly find ourselves outpaced and, God forbid, outgunned. We have to continue to compete in this new battle space, where conflicts are as defined as much by bytes and big data as by bullets and battleships. In a world where digital borders matter as much as physical ones, our sovereignty is not just about geography anymore. And our security is no longer assured by military means and actors alone.“ In: https://www.nato.int/cps/en/natohq/opinions_179704.htm?selectedLocale=en
  6. [6] NATO readies for cyber threats, 16. November 2020, in: https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_179481.htm?selectedLocale=en