Q4/2020 - Vereinte Nationen
75. UN-Vollversammlung, Oktober bis Dezember 2020
- UN-Resolutionen 75/240, 75/32 und 75/38 zu Cybersicherheit
- UN-Resolution 75/202 zur nachhaltigen Entwicklung und WSIS Follow-up
- UN-Resolution 75/176 zum Schutz der Privatsphäre
Die 75. UN-Vollversammlung hat im Dezember 2020 mehrere Resolutionen zur digitalen Zusammenarbeit und zu Cybersicherheit verabschiedet.
- Im 1. Ausschuss der UN-Vollversammlung wurde der neue Zeitplan für die Fortsetzung der Verhandlungen der beiden Arbeitsgruppen UN-GGE und OEWG bestätigt und das Mandat für die OEWG bis ins Jahr 2025 verlängert. Der Ausschuss nahm Kenntnis von den Verhandlungen zu tödlichen autonomen Waffensystemen (LAWS).
- Im 2. Ausschuss wurde die traditionelle Resolution „Information and Communication Technologies for Sustainable Development“, die sich auch mit dem WSIS Follow-up beschäftigt, fortgeschrieben.
- Im 3. Ausschuss wurde eine Resolution zum „Right to Privacy in the Digital Age“ verabschiedet mit Empfehlungen, wie Staaten und Unternehmen im Zusammenhang mit neuen technischen Entwicklungen wie künstlicher Intelligenz, Algorithmen, biometrischen Erkennungsverfahren etc. Menschenrechte schützen sollen. Diskutiert wurden die Berichte der Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates für Meinungsfreiheit, Irene Khan, und Datenschutz, Joe Catenacci. Die Diskussion über die Sinnhaftigkeit eines völkerrechtlichen Instruments zur Bekämpfung von Cyberkriminalität im Rahmen der UNO wurde nicht diskutiert, da die Sitzung der dafür mandatierten zwischenstaatlichen Ad-hoc-Gruppe vom August 2020 auf das Frühjahr 2021 verschoben wurde.
Die UN-Resolution 75/32 „Advancing responsible state behaviour in cyberspace in the context of international security“ vom 7. Dezember 2020 bekräftigt das Mandat der 2019 gegründeten 6. UN-GGE und erwartet einen Abschlussbericht bis zur 76. UN-Vollversammlung im Herbst 2021. Die Resolution verweist auf den durch Covid-19 veränderten Zeitplan und empfiehlt, über die weitere Zukunft der UN-GGE im Lichte der Diskussionen des Schlussberichts der OEWG zu entscheiden. Unter Leitung ihres Vorsitzenden, Botschafter Guilherme de Aguiar Patriota aus Brasilien, sind 2021 zwei substanzielle Sitzungen der 6. UN-GGE geplant. Ob und wie die Treffen stattfinden, ist jedoch unklar[1].
Die UN-Resolution 75/240 „Developments in the field of information and telecommunications in the context of international security“ vom 31. Dezember 2020 konstatiert eine erfolgreiche Arbeit der 2018 geschaffenen „Open-Ended Working Group“ (OEWG) unter Leitung des Schweizer Botschafter Jörn Lauber. Die Pandemie hat auch den OEWG-Zeitplan verändert. Der für die 75. UN-Vollversammlung erwartete Schlussbericht wird jetzt frühestens im Sommer 2021 vorliegen. Nichtsdestotrotz hat die 75. UN-Vollversammlung auf der Basis eines russischen Vorschlages mit 104 Stimmen (bei 50 Gegenstimmen und 20 Enthaltungen) das Mandat der OEWG bis zum Jahr 2025 verlängert. Damit wird die OEWG de facto zu einem permanenten UN-Gremium, das sich mit Cybersicherheitsfragen beschäftigt. Die neue OEWG kann thematische Untergruppen bilden und mit nicht-staatlichen Akteuren zusammenarbeiten (the OEWG „may decide to interact, as appropriate, with other interested parties, including businesses, non-governmental organizations and academia“)[2].
- Im Oktober und November 2020 fanden zwei informelle Konsultationen zwischen Regierungen statt. Vom 4. Bis 10. Dezember 2020 wurde dann ein „Informal Multistakeholder Cyberdialogue“ organisiert. Dieser Cyberdialog knüpfte an die informellen OEWG-Konsultationen vom Dezember 2019 an. Er fand statt in Form von sechs virtuellen thematischen Workshops zu den sechs Themen, die die OEWG behandelt (International Law; Rules, Norms and Principles; Existing and Emerging Threats, Cyber Policy Capacity Building, Regular Institutional Dialogue and Confidence Building Measures). Die Panelisten repräsentierten alle Stakeholdergruppen. Die Teilnahme war offen für alle interessierten Stakeholder. Das Design dieses Dialogs erlaubte einen sehr effektiven Austausch zwischen Regierungen und nicht-staatlichen Akteuren. Der 26-seitige Schlussbericht enthält über 30 Empfehlungen. Angesichts der Entscheidung der 75. UN-Vollversammlung, das Mandat der OEWG bis 2025 zu verlängern, gewannen die Empfehlungen der Session zum „Regular Instituitional Dialogue“ eine besondere Bedeutung. Vorgeschlagen wurde u.a. die Bildung eines neuen „UN Cybersecurity Committees“ und eines „UN Office on Cyberaffairs“. Angeregt wurde die Einführung eines Berichtssystem zur Umsetzung der elf Normen des UN-GGE Berichts von 2015 zum völkerrechtsgemäßen Verhalten von Staaten im Cyberspace, nach dem Modell des Staatenbericht des UN-Menschenrechtsrates. Die OEWG sollte auch verpflichtet werden, dem IGF jährlich einen Fortschrittsbericht vorzulegen. Gefordert wurde, den Dialog zwischen Regierungen und den nicht-staatlichen Akteuren zu formalisieren und zu institutionalisieren. Insbesondere der technischen Community sollte stärker in zwischenstaatliche Verhandlungen einbezogen werden. Ein weiterer Vorschlag betraf die Ausarbeitung eines „Lexikons“ mit Definition für wichtige Begriffe und Kategorien im Bereich der Cybersicherheit[3].
- Am 8. Oktober 2020 hat eine von der EU angeführte Gruppe von mehr als 40 Staaten ein Diskussionspapier zur zukünftigen Cybersicherheits-Diskussion in den Vereinten Nationen unterbreitet (The Future of Discussion on ICTs and Cyberspace at the UN). Das Paper stellt fest, dass die Diskussion von Cybersicherheitsfragen in zwei UN-Gruppen (OEWG und UN-GGE) mittelfristig kontraproduktiv ist und zu einer Verschwendung von Ressourcen führt. Das Paper erkennt an, dass die Mehrzahl der UN-Mitglieder einen ständigen institutionellen Dialog zum Thema Cybersicherheit innerhalb der UNO wünschen. Um dem zu entsprechen, schlägt das Papier die Ausarbeitung eines „Program of Action“ (POA) vor, mit dem der Dialog organisiert und strukturiert werden soll. Teil des Vorschlags sind regelmäßige Überprüfungskonferenzen und ein formalisierter und institutionalisierter Austausch mit nicht-staatlichen Akteuren aus der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Zivilgesellschaft und der technischen Community[4]. Neben den 27 EU-Staaten wurde das Papier von Ägypten, Argentinien, Kolumbien, Ecuador, Gabon, Georgien, Japan, Marokko, Norwegen, Salvador, Singapur, der Republik Korea, Moldawien, Nordmazedonien und Großbritannien, nicht aber von den USA gezeichnet.
In der Resolution 75/38 „Role of science and technology in the context of security and disarmament“ vom 7. Dezember 2020 wird auf die Verhandlungen der Group of Governmental Experts zu tödlichen autonomen Waffensystemen (GGE-LAWS) verwiesen. Vor dem Hintergrund des Einsatzes von bewaffneten Drohnen im Kaukasus-Krieg im Herbst 2020 gewinnt diese Resolution eine besondere Bedeutung. Die UN-Mitgliedstaaten werden aufgefordert, enger mit Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, um ein besseres Verständnis für die Implikationen einer „dual-use-technology“ zu erlangen und öffentliches Bewusstsein zu schaffen, z.B. durch „Konferenzen, Seminare, Workshops und Ausstellungen auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene“ unter Einbeziehung aller Stakeholder aus dem nicht-staatlichen Bereich[5]. Die für Oktober 2020 geplante Verhandlungsrunde der GGE-LAWS wurde wegen der Pandemie verschoben. 2021 muss die GGE-LAWS der alle fünf Jahre stattfindenden Überprüfungskonferenz der CCW-Konvention, unter deren Dach sie angesiedelt ist, Bericht erstatten.
Die UN-Resolution 75/202 „Information and communications technologies for sustainable development“ wurde am 21. Dezember 2020 im Konsensus verabschiedet. Die Resolution wird seit 2006 fortgeschrieben und verfolgt die Umsetzung der Empfehlungen des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (WSIS) von 2005[6]. Die 2020er-Version der UN-Resolution enthält keine neuen Aspekte. Nachhaltig bekräftigt wird die grundsätzliche Bedeutung des Multistakeholder-Prinzips als „vital in developing the information society“, wobei eine stärkere Beteiligung von Entwicklungsländern an der Politikentwicklung eingefordert wird. Beklagt wird die andauernde digitale Spaltung, insbesondere im Bereich des Ausbaus von Breitbandversorgung, und die Unterfinanzierung von Fortbildungs- und Infrastrukturprojekten in Entwicklungsländern. Hervorgehoben wird die neue Rolle der Digitalwirtschaft für eine nachhaltige Entwicklung. Betont wird die Notwendigkeit der Einführung eines gerechten digitalen Steuersystems. Vom Internet Governance Forum wird erwartet, dass es bis 2025 mehr greifbare Resultate produziert. Die im Juni 2020 veröffentliche „Roadmap on Digital Cooperation“ von UN-Generalsekretär António Guterres wird begrüßt. Noch einmal aufgegriffen wird die durch die IANA-Transition eigentlich beendete Debatte zum Thema „Enhanced Cooperation. Hier wird eine nicht weiter spezifizierte „Fortsetzung des Dialogs“ angemahnt.
Die UN-Resolution75/176 „The right to privacy in the digital age“ wurde am 16. Dezember 2020 im Konsensus verabschiedet. Sie ist das bislang umfangreichste UN-Dokument, dass sich zu den menschenrechtlichen Implikationen der Entwicklung neuer Technologie wie künstliche Intelligenz, biometrische Erkennungsverfahren. Algorithmen usw. positioniert. Die UN-Resolution enthält keine konkreten oder bindenden Beschlüsse, formuliert aber 17 Empfehlungen für Regierungen[7] und sechs Empfehlungen für Unternehmen.
- Regierungen werden aufgefordert, staatliche Maßnahmen zu „mass surveillance, interception and collection, as well as regarding the use of profiling, automated decision-making, machine learning and biometric technologies“ regelmäßig zu überprüfen und an den Kriterien „legality, necessity and proportionality“ zu messen. Jede staatliche Maßnahme müsse den Vorgaben von Artikel 12 der UN-Menschenrechtsdeklaration (1948) und Artikel 17 der UN-Konvention zu den zivilen und politischen Rechten (1966) entsprechen. Neue Technologien müssten auf ihre Menschenrechtsverträglichkeit geprüft werden. Notwendig sei „a safe, transparent, accountable, secure and high quality data infrastructure“. Entwickelt werden müssten „human rights-based auditing, redress and human oversight mechanisms“. Individuen müssten rechtliche Instrumente in ihre Hände bekommen, um sich gegen rechtswidrige und willkürliche Überwachung zur Wehr zu setzen. Entsprechende Gesetzgebung sollte in Kooperation mit „allen relevanten Stakeholdern“ entwickelt werden. Digitale und biometrische Identitätsprogramme müssten so gestaltet werden, dass sie technisch und rechtlich den Menschenrechtsstandards entsprechen. Regierungen sollten nicht von privaten Unternehmen Aktivitäten verlangen, die das individuelle Recht auf Schutz der Privatsphäre verletzen.
- Die sechs Empfehlungen an Unternehmen[8] entsprechen den „UN Guiding Principles on Business and Human Rights“ von 2011 und basieren auf dem „Protect, Respect and Remedy Framework“. Unternehmen werden aufgefordert, ihren Umgang mit persönlichen Daten in klarer und verständlicher Sprache ihren Nutzern zu kommunizieren, technische Vorkehrungen zu treffen, dass diese Daten nicht durch Dritte missbraucht werden, bei der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen den Schutz der Privatsphäre „into the design, operation, evaluation and regulation of automated decision making and machine learning technologies“ einzuarbeiten. Individuelle Nutzer müssen die Möglichkeit haben, falsche sie betreffende Daten zu korrigieren.
Der 3. Ausschuss hörte auch Berichte der beiden Sonderberichterstatter des UN-Menschenrechtsrates (HRC) zum Datenschutz (Joe Cannataci) und zu Meinungsfreiheit (Irene Khan).
Der Sonderberichterstatter zum Thema „Privacy in the Digital Age“, Joe Cannataci, prangerte in seinem Bericht Praktiken von Staaten an, die die Covid-19-Krise nutzen, um digitale Überwachungsmechanismen auszubauen. Tracing und Tracking seien wichtige Instrumente zur Bekämpfung der Krankheit. Ihre Einführung müsste aber konditioniert werden und Prinzipien der Rechtmäßigkeit, Angemessenheit und Proportionalität entsprechen sowie zeitlich begrenzt werden[9].
In ihrer ersten Rede vor dem 3. Ausschuss der UN-Vollversammlung legte die neue Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit, Irene Khan[10], ihr Programm für die nächsten Jahre vor. Neben dem Zusammenhang zwischen nachhaltiger Entwicklung und Meinungsfreiheit, der Freiheit von Journalisten und Medien sowie der „Genderperspektive“ will sie sich vor allem mit den Konsequenzen neuer digitaler Technologien und künstlicher Intelligenz für die Gewährleistung der Meinungsäußerungsfreiheit befassen[11]. Sie will dabei auf dem aufbauen, was ihr Vorgänger, der amerikanische Jurist David Kaye, geleistet hat. Vier Themen stünden dabei im Vordergrund:
1. Desinformation und Hassrede
2. Zielgerichtete Überwachung
3. Einfluss von Technologien auf die Meinungsäußerungsfreiheit
4. Verantwortung von unternehmerischen Digitalplattformen.
Die 75. UN-Vollversammlung hätte auch über den Bericht des 2019 gegründeten zwischenstaatlichen Ad-hoc Committees zur Ausarbeitung einer UN-Konvention im Kampf gegen Cyberkriminalität, diskutieren sollen. Da die Sitzung der Ad-hoc-Gruppe vom August 2020 auf Frühjahr 2021 verschoben wurde, fand die Diskussion nicht statt.
Follow-up „Roadmap on Digital Cooperation“, Dezember 2020
Die am 11.Juni 2020 von UN-Generalsekretär António Guterres präsentierte „UN-Roadmap on Digital Cooperation“[12] wurde ausführlich auf dem virtuellen Internet Governance Forum (vIGF) im November 2020 diskutiert. Mit der von der Roadmap vorgeschlagenen Weiterentwicklung des „institutionellen Mechanismus“ (IGF+) beschäftigt sich eine vom IGF MAG Chair, Anriette Esterhuysen, eingesetzte „IGF/MAG Strategy Group“. Die Roadmap war nicht Gegenstand von Verhandlungen im Rahmen der 75. UN-Vollversammlung. Es bestehen nach wie vor Unklarheiten, wer für die Umsetzungen der Empfehlungen der Roadmap zuständig ist. Die angekündigte Ernennung eines UN-Technology Envoy durch UN-Generalsekretär António Guterres – erwartet war eine Nominierung bis zum 31. Dezember 2020 – zieht sich in die Länge[13]. Unklar ist auch, wie die in der Roadmap vorgeschlagenen neuen Gremien – darunter ein „Multistakeholder High Level Body (MHLB)“ – formiert werden sollen.
Rede von UN-Generalsekretär António Guterres im Deutschen Bundestag zu 75 Jahre Vereinte Nationen am 18. Dezember 2020
Anlässlich des 75. Jahrestages der Vereinten Nationen veranstaltete der Deutsche Bundestag am 18. Dezember 2020 eine Sondersitzung, auf der UN-Generalsekretär António Guterres eine Rede hielt, in der er sich für die Menschenrechte und einen „inklusiven Multilateralismus“, der auch Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft einbezieht, stark machte. Guterres sagte: „Die Menschenrechte müssen überall Realität im Leben der Menschen werden. Dabei geht es nicht um dieses oder jenes Recht, sondern um alle Rechte: die bürgerlichen, politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen. Wir müssen diese Rechte auch beim Klimawandel und bei der Digitalisierung anwenden.“ Eine Herausforderung sei die Rechtlosigkeit im Cyberraum. Nach Guterres gäbe es dafür nur eine Lösung: Globale Zusammenarbeit. „Deutschland ist sich dessen bewusst. Wir haben Menschen zusammen mit den Parlamenten, so auch dem Deutschen Bundestag, befragt. 99 Prozent der in Deutschland Befragten betrachten die globale Zusammenarbeit als entscheidend - 99 Prozent. Wunderbar! Wenn wir in die Zukunft blicken, brauchen wir einen Multilateralismus, der Resultate liefert und zukunftsorientiert ist und nicht in der Welt von damals stecken bleibt. Sowohl der UNO-Sicherheitsrat als auch die Bretton-Woods-Gremien sind beste Beispiele für diese Notwendigkeit. Der Multilateralismus in diesem Jahrhundert muss vernetzt und inklusiv sein. Er muss über Regierungen hinausgehen und die Rolle der Zivilgesellschaft und der Städte, der Privatwirtschaft und der akademischen Institutionen anerkennen. Darin liegt seine Zukunft.“[14]