Quartalsbericht Q3/2021 - Zusammenfassung
Die Diskussionen und Ereignisse um Internet-Governance-Entwicklungen im 3. Quartal 2021 verstärkten die jüngeren Trends der Transformationen im globalen Internet-Governance-Ecosystem. Diese lassen sich in sieben Punkten zusammenfassen.
- Der Ruf nach staatlicher Regulierung des Internet, auch in den westlichen Demokratien, wird lauter. Dabei dominiert ungeachtet des globalen Charakters des Internet mehr und mehr der Vorrang von „nationalen Interessen“, was zu regulativen Alleingängen einzelner Länder führt. Die „Politisierung“ der globalen Internet-Governance-Diskussion hat zwar dazu geführt, dass zahlreichen neue zwischenstaatliche Verhandlungsgremien in Internet-relevanten Bereichen wie innere und äußere Cybersicherheit, grenzüberschreitender Datenhandel sowie Menschenrechte geschaffen wurden, zugleich ist aber die Kompromissbereitschaft von Regierungen gesunken zu einvernehmlichen internationalen Arrangements zu kommen, da diese häufig Zugeständnisse mit Folgen für die nationale Politik erfordern. Die WSIS-Tunis-Agenda von 2005 bleibt nach wie vor das letzte umfängliche Referenzdokument für Internet Governance, das auf einem globalen Konsensus basiert.
- Das Multistakeholder-Prinzip für Internet Governance wird mittlerweile zwar weltweit anerkannt, sobald jedoch harte politische oder wirtschaftliche Probleme auftauchen, wird es schnell zu einem Lippenbekenntnis. Regierungen betonen dann ihre besondere Rolle und berufen sich auf das Prinzip staatlicher Souveränität. Die in der WSIS-Tunis-Agenda von 2005 vereinbarte gleichberechtigte Beteiligung nicht-staatlicher Akteure bei der Entwicklung und Umsetzung von Internetpolitiken (sharing of decision making) findet nicht eigentlich statt. Regierungen verstehen unter „Multistakeholder Approach“ häufig „Konsultationen“ mit nicht-staatlichen Akteuren in Form von „Anhörungen“ im Parlament oder die Bildung informelle Arbeitsgruppen zur Beratung von Regierungen. Die Auswahl der Experten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Zivilgesellschaft und der technischen Community für die jeweiligen Arbeitsgruppen obliegt in der Regel den Regierungen und Parlamenten selbst.
- Die Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts war in eine „kapitalistische“ und eine „sozialistische“ Welt geteilt. Die „Internet-Revolution“ hat im 21. Jahrhundert den Übergang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft vorangetrieben und zunächst – Ende der 1990er Jahre – zu einer „Konvergenz“ geführt mit der Erwartung, dass eine einheitliche globale Informationsgesellschaft entsteht. Mit der weiteren Ausgestaltung der Informationsgesellschaft wurde aber klar, dass sich erneut zwei unterschiedliche Gesellschaftsmodelle herausbilden: ein demokratisches und ein autokratisches Modell. Die beiden Modelle basieren auf unterschiedlichen Wertvorstellungen und stehen sich im Grund feindlich gegenüber. Anders aber als im kalten Krieg, wo die Blöcke durch einen „eisernen Vorhang“ getrennt waren, sind die Grenzen zwischen beiden Informationsgesellschaftsmodellen offen und es besteht eine hochgradige wechselseitige wirtschaftliche Abhängigkeit, die das „UN High Level Panel on Digital Cooperation“ (HLP) in seinem 2019er Bericht als „The Age of Cyberinterdependence“ bezeichnet hat. Im globalen Internet-Governance-Ecosystem mit seinen wechselseitigen Abhängigkeiten gibt es daher neben den Konfliktbereichen, die auf unterschiedlichen Wertesystemen basieren, auch Kooperationsbereiche, die auf gleichen, oder ähnliche Interessen beruhen. Das hat Folgen für die seit vielen Jahren diskutierte Frage einer Fragmentierung oder einer „Bifurcation“ des Internet. Ungeachtet ihrer politischen Zielsetzungen benutzen beide Gesellschaftsmodelle auf dem sogenannten „Transport Layer“ die gleiche globale Infrastruktur (Internet-Protokolle, DNS) und die gleichen globalen Ressourcen (IP-Adressen, Domainnamen, Daten). Eine Zerstückelung dieser Infrastruktur z.B. in „nationale Internet Segmente“ würde die Netzwerkeffekte des Internet mit derzeitig mehr als vier Milliarden Nutzern dramatisch verringern (Metcalfesches Gesetz[1]) und hätte vor allem negative wirtschaftliche Konsequenzen für alle Seiten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die vor Jahren dominierenden kontroversen Auseinandersetzungen um das Management kritischer Internet-Ressourcen und der Kontrolle über das Root Server System (Governance OF the Internet) sich abgeschwächt haben. Zuspitzen werden sich hingegen die Auseinandersetzungen auf dem „Application Layer“, wo mit entsprechenden Diensten und Anwendungen gegensätzliche politische und wirtschaftliche Ziele verfolgt werden (Governance ON the Internet).
- Aus der Digitalisierung aller Bereiche des Lebens folgt, dass politische, wirtschaftliche, kulturelle, soziale und rechtliche Fragen heute Teil der globalen Internet-Governance-Diskussion geworden sind, die vor 20 Jahren, als der WSIS-Prozess begann, nichts oder nur wenig mit dem Internet zu tun hatten. Das betrifft selbst Fragen wie Krieg und Frieden, die internationale Sicherheit, den Welthandel und den Respekt der Menschenrechte. Die umfassende Digitalisierung hat nicht nur dazu geführt, dass mehr als vier Milliarden Menschen miteinander kommunizieren können, sie hat auch Milliarden von Objekten vernetzt. Mit der Vernetzung von Computern, Menschen und Objekten geht die Vernetzung von Problemen einher. Politische Entscheidungen zur Stärkung nationaler Cybersicherheit haben wirtschaftliche Implikationen und können den Schutz und die Ausübung von Menschenrechten wie Privatsphäre oder Meinungsäußerungsfreiheit beeinträchtigen, wie umgekehrt datenschutzrechtliche Regelungen zur Stärkung von individuelle Persönlichkeitsrechten Konsequenzen haben für die Geschäftsmodelle von Internet-Unternehmen und die Arbeit von Strafverfolgungsbehörden. Der daraus folgende notwendige ganzheitliche Ansatz für die Entwicklung von Internet-Politiken (holistic approach) stößt in der Regel aber auf eine gering vernetzte Politiklandschaft. Dort werden einzelne Themen nicht selten in den „Silos“ einzelner Ministerien isoliert voneinander behandelt, was nicht selten zu unbeabsichtigten und kontraproduktiven Nebeneffekten führt.
- Das auf den Spezifika des globalen Internet-Governance-Ecosystems aufgesetzte Geschäftsmodell mit einem weitgehend ungehinderten Zugang zum Netz für mehr als vier Milliarden Internet-Nutzer und grenzenlos vorhandenen preiswerten, territorial ungebundenen und wieder verwendbaren Ressourcen (IP Adressen, Domainnamen, Daten) hat zu einer Monopolisierung (the winner takes it all) in vielen neuer Geschäftszweigen (Suchmaschinen, soziale Netzwerke, eCommerce) und zur Herausbildung von global tätigen Wirtschaftsgiganten geführt, deren politischer Einfluss ständig wächst und für die es bislang nur mangelnde Transparenz- und Aufsichtsmechanismen gibt. Immer stärker wird auch befürchtet, dass diese Monopolisierung zu Wettbewerbsverzerrung und zu Widersprüchen mit den allgemeinen öffentlichen Interessen führt.
- Die technische Internet Community ist sich zwar bewusst, dass technische Regelungen politische Implikationen haben, versucht jedoch, sich weitgehend aus der Politisierung und Polarisierung der globalen Internet-Governance-Diskussionen herauszuhalten. Das von ICANNs CEO Göran Marby propagierte Konzept der „technical Internet Governance“ (TIG) basiert darauf, dass sich die Institutionen, die sich dem I*-Netzwerk zugehörig fühlen (ICANN, RIRs, ISOC, IETF, IEEE, W3C usw.), vor allem als neutrale Service Provider verstehen, die technische Ressourcen zur Verfügung stellen, aber nicht dafür zuständig sind, wie und von wem diese Ressourcen genutzt werden.
- Neue technische Entwicklungen (The Forth Industrial Revolution) wie das Internet der Dinge, Blockchain-Technologie, Quantum Computing und vor allem künstliche Intelligenz wirken als Beschleuniger für die oben genannten Trends.
Analysiert man vor diesem Hintergrund die Diskussionen und Entwicklungen im 3. Quartal 2021, dann drängen zwei widersprüchliche Konflikte in den Vordergrund: Das ist erstens der mehr prozedurale Konflikt zwischen „nationalen“ und „internationalen“ Herangehensweisen an Internet-Probleme und zweitens der mehr inhaltliche Konflikt zwischen der „demokratischen“ und der „autoritären“ Version der Informationsgesellschaft.
- Die Zahl von Internet-relevanten Globalverhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen nimmt weiter zu, gleichzeitig aber verfolgen immer mehr Länder prioritär eine „nationale Cyber- und Digitalisierungsstrategie“.
- Die Konflikte zwischen demokratischen und autokratischen Staaten in Bereichen wie Cybersicherheit und Digitalwirtschaft spitzen sich zu, gleichzeitig aber suchen die Cybergroßmächte nach Feldern gemeinsamen Interesses und streben internationale Abkommen auf der Basis des Völkerrechts an.
Diese Widersprüchlichkeit wurde insbesondere sichtbar in den politischen Grundsatzreden der 76. UN-Vollversammlung, die am 21. September 2021 begann. US-Präsident Joe Biden sprach in seiner ersten Rede vor den Vereinten Nationen ausführlich über die Risiken und Möglichkeiten der Digitalisierung und betonte, dass die USA keine neue Blockbildung im Cyberspace anstreben: „We’re not seeking — I’ll say it again — we are not seeking a new Cold War or a world divided into rigid blocs“. [2] Vergleicht man aber die Reden, die die Führer der Cybergroßmächte – Russland und China auf der einen und die USA und die Europäische Union auf der anderen Seite – im 3. Quartal 2021 gehalten haben, dann zeichnet sich genau eine solche Blockbildung ab. Nichtsdestotrotz beteuern beide Seiten, keine Konfrontation zu wünschen. Diese Art spiegelgleiche Doppelstrategie schließt ein, dass einerseits Internet-relevante Globalverhandlungen unterstützt werden, andererseits regionale Partnerschaften mit „gleich gesinnten Regierungen“ gesucht und eingegangen werden (G7, BRICS, Quad, Shanghai Cooperation Organisation), die dann gegensätzliche Konzepte verfolgen.
Vor diesem Hintergrund einer neuen „Blockbildung“ erlangen die UNO und ihre Spezialorganisationen als ein etabliertes System des Multilateralismus eine neue Bedeutung. Allgemeine Bekenntnisse zur Geltung der Charta der Vereinten Nationen für den Cyberspace sind einer der wenigen Bereiche, wo es einen Konsens zwischen demokratischen und autokratischen Staaten gibt. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede im Verständnis darin, wie die Normen des Völkerrechts in konkreten Konfliktfällen, z.B. bei der Zuordnung und Bewertung von Cyberangriffen, angewendet werden sollen.
Ungeachtet dieser Widersprüche weiten sich die Diskussionen zu Internet-relevanten Fragen in den Vereinten Nationen weiter aus. UN-Generalsekretär António Guterres hat am 10. September 2021 in seinem Bericht „Our Common Agenda“ [3] eine neuen „Global Digital Compact“ vorgeschlagen. Dieser Pakt soll im Rahmen des für 2023 geplanten „UN-Weltgipfels zur Zukunft des Planeten“ verabschiedet werden. Die von Guterres im Juni 2020 publizierte „Roadmap for Digital Cooperation“ befindet sich in der Phase der Umsetzung. [4] Die unter dem 1. Ausschuss der UN-Vollversammlung operierende „Open Ended Working Group“ (OEWG), die sich mit der Ausarbeitung von Normen für ein verantwortungsbewusstes Verhalten von Staaten im Cyberspace befasst, hat ein Mandat bis 2025. Bis 2023 will die UN eine neue internationale Konvention zur Bekämpfung von Cyberkriminalität unterschriftsreif haben. 2025 ist eine Art dritter UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft geplant. Die UNO muss dann die Ergebnisse der Tunis Agenda von 2005 überprüfen (WSIS+20). Die UNESCO will ein Rechtsinstrument zur Stärkung der Ethik bei der Entwicklung und Anwendung künstlicher Intelligenz verabschieden. Die Welthandelsorganisation (WTO) verhandelt über einen Rahmenabkommen zum globalen Handel mit digitalen Daten. Der Internationale Fernmeldeunion (ITU) verhandelt über globale Standards zum Internet der Dinge. Die WIPO über den globalen Schutz von geistigem Eigentum im digitalen Zeitalter. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) diskutiert die Folgen der Digitalisierung für die Zukunft der Arbeit.
Dabei kann man nicht übersehen, dass diese Globalverhandlungen überschattet werden vom amerikanisch-chinesischen Cyberkonflikt. Bemerkenswert ist dabei, dass der amerikanische Präsident Joe Biden stärker die unterschiedlichen Wertvorstellungen und Gegensätze betont sowie den Schulterschluss mit „Gleichgesinnten“ sucht, während der chinesische Präsident Xi Jinping die offensichtlichen Gegensätze in den Wertvorstellungen öffentlich herunterspielt und sich als Vorkämpfer des Multilateralismus präsentiert. Die Welt sei groß genug, um unterschiedliche Gesellschaftssysteme zu beherbergen, ist ein wiederkehrendes Element in seinen Reden.
Vor US-amerikanischen Geheimdiensten warnte US-Präsident Joe Biden am 26. Juli 2021 hingegen, dass ein Cyberangriff zu einem realen Krieg zwischen den Großmächten führen könnte. „We’ve seen how cyber threats, including ransomware attacks, increasingly are able to cause damage and disruption to the real world. I can’t guarantee this, but I think it’s more likely we’re going to end up — well, if we end up in a war, a real shooting war with a major power, it’s going to be as a consequence of a cyber breach of great consequence. And it’s increasing exponentially — the capabilities.“ Daher müssten die USA ihre Beziehungen zu ihren Verbündeten stärken und darauf drängen, dass internationale Normen das demokratische und nicht das autokratische Modell stärken. „It’s especially important that we work closely with our partners and allies to maintain our technological edge; shore up supply chains; ensure that the rules that govern technologies support democracies, not autocracies.“ [5] Im 3. Quartal 2021 spiegelte sich die Strategie wider vor allem bei der Gründung eines neuen Sicherheitsverbundes zwischen den USA, Großbritannien und Australien (AUKUS) am 15. September 2021 [6], beim Gipfeltreffen des Quadrilateral Security Dialogue (QUAD) am 25. September 2021 in Washington [7], bei der ersten Sitzung des neuen „EU-US Trade and Technology Council (TTC)“ am 29. September 2021 in Pittsburgh [8] und relevanten NATO-Aktivitäten zum Thema Cybersicherheit.
Auf der anderen Seite hat der chinesische Präsident Xi Jinping sein 2015 verkündetes Konzept der „Cybersouveränität“ weiter präzisiert und gleichzeitig – in seiner Grußbotschaft an die jährliche „World Internet Conference“ in Wuzhen vom 26. September 2021 – die Bereitschaft bekräftigt „to work with other countries in the world to make the digital civilization benefit people of all countries, and promote the building of a community with a shared future for humankind.“ Zu dieser Zusammenarbeit gehöre aber auch der Bau eines starken „digital security shield“. [9] Der stellvertretende Ministerpräsident Liu He fügte hinzu, China unternehme „global efforts to ensure the safety and reliability of infrastructure, crack down on illegal activities in the internet sector, ensure fair competition and promote innovation“. [10] Wie diese Statements von Xi und Liu zu verstehen sind, geht aus Äußerungen von Maiyue Cheng, Direktor des „Wuzhen Instituts“, an einflussreicher Thinktank in Beijing, hervor. Cheng sagte bei der Wuzhen-Konferenz im September 2021, dass China stets eine „kooperative, aber kompromisslose Haltung“ zum Thema Cybersicherheit eingenommen habe. China würde sich alle Optionen offenhalten, um auf Cyberattacken von ausländischen Regierungen zu reagieren. [11] China setzt bei der Umsetzung seiner Ziele dabei vor allem auf die Partnerschaften im Rahmen der „Shanghai Cooperation Organisation“ (SCO), die am 8. September 2021 in Duschanbe ihr jährliches Gipfeltreffen hatte. In der „Duschanbe-Deklaration“ einigten sich die SCO-Mitglieder darauf, auf gleiche Rechte für alle Staaten das Internet zu regulieren zu drängen und betonten das souveräne Recht ihrer Staaten ihr „nationales Internet Segment“ zu managen.
So wie die Erklärungen der G7, Quad und des US-EU-Technologierates eine latente anti-chinesische Haltung nicht verheimlichen können, so wenig verheimlicht die Duschanbe-Deklaration eine anti-amerikanische Haltung. Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass diese neue Blockbildung noch nicht zu förmlichen digitalen Allianzen geführt hat. Das hängt auch damit zusammen, dass ungeachtet gemeinsamer oder ähnlicher Wertvorstellungen es unterschiedliche Interessenlagen sowohl zwischen den USA und der EU als auch zwischen China und Russland gibt, wenn es um Internet-Themen geht.
Im Block der demokratischen Staaten gibt es zwischen den USA und der EU viele Übereinstimmung, vor allem bei den mehr generellen Fragen wie Demokratie, Menschenrechte sowie eine freie und soziale Marktwirtschaft. Bei mehr konkreten Internet-relevanten Themen wie Plattformregulierung, Datenschutz und künstlicher Intelligenz gibt es aber auch erhebliche Differenzen. Das ist im Verhältnis zwischen China und Russland nicht viel anders. Viel Übereinstimmung gibt es bei autokratischen Wertvorstellungen und der „führenden Rolle von Regierung und Partei“ bei der Regulierung des Internet. Auffällig ist aber, dass China das von Russland im Rahmen der BRICS seit Jahren verfolgte Projekt eines eigenständigen plurilateralen BRICS-Vertrages zu Cybersicherheit nur halbherzig unterstützt. Auch das von Russland vor allem in der ITU verfochtene Konzept der Anerkennung eines „national Internet Segment“ findet auf chinesischer Seite wenig Unterstützung. Auf russischer Seite wächst das Misstrauen gegenüber den wachsenden wirtschaftlichen Aktivitäten chinesischer Internetkonzerne in Russland. Huawei baut das russische 5G Netz, Alibaba hat sich in den russischen Internetgiganten mail.ru eingekauft und mit Ali Express eine Plattform geschaffen, die vor allem auch für russischen klein- und mittelständische Unternehmen von Interesse ist. [12]
Diese internen Konflikte innerhalb der neu entstehenden „Blöcke“ ändern jedoch wenig am chinesisch-amerikanischen Grundkonflikt. Dabei strecken die beiden Führungsmächte auch ihre Fühler aus zu den Ländern, die sie als „Juniorpartner“ der anderen Cybergroßmacht sehen. China versucht mit der EU in eine Sonderbeziehung zu gelangen. Beispiel dafür ist, dass sich China hinter die EU-Datenschutzrichtlinie stellt und nicht unerhebliche Teile dieser Richtlinie als Grundlage für das im September 2021 verabschiedete chinesische Datenschutzgesetz genommen hat. Ähnliches ist bei der Diskussion zu der von der EU vorgeschlagenen Regulierung zu künstlicher Intelligenz zu beobachten. Die USA wiederum intensivieren ihre Kommunikation mit Russland, vor allem nach dem Gipfeltreffen zwischen Biden und Putin im Juni 2021 in Genf. Spektakuläre russische Hackangriffe auf US-amerikanische Einrichtungen sind seither ausgeblieben. Auch ist es in der UNO erstmalig seit Jahren dazu gekommen, dass die USA und Russland gemeinsam einen Resolutionsentwurf zu Cybersicherheit im 1. Ausschuss der UN-Vollversammlung eingebracht haben.
Diese Machtspiele zwischen den Cybergroßmächten und ihren „Alliierten“ werden vor allem in Entwicklungsländern mit wachsendem Misstrauen beobachtet. Immer lauter werden Stimmen, die vorschlagen, die aus den 1950er Jahren stammende Idee einer „Blockfreiheit“ – damals zwischen den USA und der Sowjetunion – auf den Cyberspace zu übertragen. Vor allem in Indien – 1955 einer der Mitbegründer der „Bewegung der nichtpaktgebundenen Staaten“ – werden Konzepte entwickelt, wie eine „digitale Nichtpaktgebundenheit“ aussehen könnte. In der neuen Publikationsreihe der Global Commission on the Stability in Cyberspace (GCSC) hat Latha Reddy, ehemalige stellvertretende Sicherheitsberaterin der indischen Regierung, die Frage aufgeworfen: „Is There Space for a Digital Non-Aligned Movement?“ [13]
Die wichtigsten Ereignisse und Prozesse in den vier Kernbereichen des globalen Internet-Governance-Ecosystems (Cybersicherheit, digitale Wirtschaft, Menschenrechte, Technologieentwicklung) waren im 3. Quartal 2021:
Cybersicherheit
Mit der 76. UN-Vollversammlung hat eine neue Etappe von Globalverhandlungen zu Cybersicherheit im UN-System begonnen. Die neuen Strukturen werden deutlicher sichtbar und beginnen sich zu etablieren: Für allgemeine Cybersicherheitsfragen – insbesondere in den Beziehungen zwischen Staaten – wird sich die „Open Ended Working Group“ (OEWG), deren Mandat bis 2025 verlängert wurde, als eine „Dachorganisation“ etablieren. Für den Kampf gegen Cyberkriminalität, das betrifft vor allem auch die „organisierte Kriminalität“ und Attacken mit Erpressungssoftware, wird des „Ad Hoc Committee“ (AHC) zuständig sein. Das AHC soll bis zum Jahr 2023 eine neue UN-Konvention ausarbeiten. Diese Konvention soll wesentliche Elemente der „Budapest Cybercrime Convention“ des Europarates aus dem Jahr 2001 mit übernehmen. Für die Rüstungskontroll- und Abrüstungsgespräche wird sich die Gruppe der Regierungsexperten zu tödlichen autonomen Waffensystemen (GGE-LAWS), die unter dem Übereinkommen über bestimmte konventionelle Waffen (CCW) gebildet wurde, profilieren. Die GGE-LAWS wurde 2014 gegründet. Fortschritte hielten sich bislang in Grenzen. UN-Generalsekretär António Guterres fordert seit Jahren ein Verbot autonomer Waffensysteme nach dem Modell des Verbotes von B- und C-Waffen.
Auf regionaler Ebene waren im 3. Quartal 2021 vor allem die Ankündigungen der Europäischen Kommission zu Cybersicherheit erwähnenswert. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte ein „EU Cyber Resilience Act“ an, mit dem die Cyberverteidigung der EU verbessert werden soll. Angekündigt wurde auch eine engere Zusammenarbeit zwischen EU und NATO im Bereich der Cybersicherheit. Im Dezember 2021 soll dazu eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht werden.
Digitale Wirtschaft
Das wichtigste Ereignis im Bereich digitale Wirtschaft war die finale grundsätzliche Einigung der G20-Finanzminister über die Einführung einer globalen Digitalsteuer bei ihrer Tagung am 6. Juli 2021 in Venedig. Es wird erwartet, dass die letzten Details dieses als Jahrhundertreform bezeichneten Vertragswerkes bis zum G20-Gipfeltreffen Ende Oktober 2021 in Rom aus dem Wege geräumt werden. Geplant ist, dass das neue Vertragswerk im Januar 2023 in Kraft tritt. Auch die im Rahmen der WTO seit 2019 laufenden Verhandlungen für ein Abkommen zum Handel mit digitalen Daten verzeichneten Fortschritte. Bei Sitzungen der WTO-Arbeitsgruppen im Juli und September 2021 konnten für insgesamt sieben Artikel abschließende Formulierungen gefunden werden. Bei der nächsten WTO-Ministerkonferenz, die Ende November 2021 in Genf stattfindet, könnten elf bis zwölf Artikel vorliegen. Das neue Büro des UN Tech Envoy pusht zunehmend Aktivitäten zur Erreichung der nachhaltigen Entwicklungsziele der UN (SDGs), um die notwendigen Investitionen in den Aufbau einer digitalen Infrastruktur aufzutreiben, die es ermöglichen würden, bis zum Jahr 2030 mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung online zu bringen.
Menschenrechte
Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet legte am 16. September 2021 der 48. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates einen umfangreichen Bericht zu den Folgen der Anwendung künstlicher Intelligenz für das „Right to Privacy“ vor. Die Hochkommissarin fordert, dass jedwede Entwicklung, Verbreitung und Anwendung von künstlicher Intelligenz kompatibel sein muss mit den menschenrechtlichen Standards, wie sie in den einschlägigen UN-Deklarationen und Konventionen verankert sind. Das gelte sowohl für Regierungen als auch für Unternehmen. Gefordert wird u.a. ein Verbot von KI-basierten Anwendungen, die gegen die Menschenwürde verstoßen, sowie ein Moratorium für biometrische Gesichtserkennungsverfahren. Weitere Forderungen betreffen die Einrichtung von unabhängigen Aufsichtsbehörden für KI-Anwendungen, Zertifizierungs- und Risikoabschätzungsverfahren sowie die Einrichtung von Mechanismen für individuelle Beschwerden bei einem Missbrauch der Verwendung von persönlichen Daten im Zusammenhang mit Diensten, die auf künstlicher Intelligenz basieren.
Technologie
Ende Juni 2021 konnten sich eine zwischenstaatliche UNESCO-Expertenkonferenz auf die finale Version einer UNESCO-Empfehlung zur Ethik künstlicher Intelligenz einigen. Der 28-seitige Text soll im Oktober 2021 von der 41. UNESCO-Generalkonferenz verabschiedet werden. Auch im Europarat, wo seit 2019 über die Möglichkeit der Ausarbeitung eines gesonderten Rechtsinstruments zur künstlichen Intelligenz diskutiert wird, gab es Fortschritte. Die 5. Sitzung des Ad Hoc Committee on Artificial Intelligence (CAHAI) verabschiedete nach Klärung eine Reihe strategischer Fragen über das weitere Vorgehen am 7. Juli 2021 in Strasburg einen Fahrplan, der vorsieht im Frühjahr 2022 mit der Aufnahme formeller Verhandlungen für eine neue Europaratskonvention zur künstlichen Intelligenz zu beginnen. Im Rahmen der ITU hat sich die Diskussion um ein neues Internet-Protokoll (New IP) zunächst beruhigt. Entschieden wurde im September 2021, dass die bereits für 2020 in Hyderabad geplante „World Telecommunication Standardization Assembly“ (WTSA) jetzt im März 2022 in Genf stattfinden soll. Es ist nicht auszuschließen, dass einzelne Regierungen entweder bei der WTSA oder bei der im Herbst 2022 anstehenden ITU-Generalkonferenz in Bukarest das Thema „New IP“ erneut aufwerfen.
Zwischenstaatliche Ebene
Im Einzelnen waren im 1. Quartal 2021 auf der zwischenstaatlichen Ebene die folgenden Aktivitäten von Belang:
- Am 10. September 2021 hat UN-Generalsekretär António Guterres in seiner „Our Common Agenda“ vorgeschlagen, auf den für 2023 geplanten „UN-Weltzukunftsgipfel“ einen „Global Digital Compact“ zu verabschieden;
- Zahlreiche Staats- und Regierungschefs haben sich bei der 76. UN-Vollversammlung, die am 21. September 2021 in New York begann, zum Thema Cybersicherheit, Digitalwirtschaft und Internet Governance geäußert
- Das Büro des „UN-Technology Envoy“ hat mit einer Reihe von Events am Rande der UN-Vollversammlung mit der Umsetzung der „UN-Roadmap zur digitalen Zusammenarbeit“ begonnen. Die Personalie des UN-Tech Envoy ist nach wie vor ungeklärt.
- Unter der italienischen G20-Präsidentschaft gab es im 3. Quartal mehrere Ministertreffen. Einen historischen Durchbruch gab es beim Treffen der G20-Finanzminister am 7. Juli 2021 in Venedig. Dort konnte man sich auf finale Grundsätze für eine globale Digitalsteuer einigen. Die G20-Digitalminister verabschiedeten im August 2021 in Triest eine Reihe von Dokumenten zur Vertiefung der digitalen Zusammenarbeit.
- Unter der britischen G7-Präsidentschaft fand am 9. September 2021 ein Treffen der G7-Innenminister statt, das sich mit der zunehmenden Cyberkriminalität und dem Thema Erpressungssoftware beschäftigte;
- Bei dem unter der indischen Präsidentschaft veranstalteten 13. BRICS- Gipfeltreffen, das als virtuelles Meeting am 9. September 2021 stattfand, gab es zu den Themen Cybersicherheit und Digitalwirtschaft keine nennenswerten neuen Übereinkünfte.
- Die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) kam am 16. und 17. September 2021 zu ihrem jährlichen Gipfeltreffen in der Hauptstadt Tadschikistans zusammen. Die „Duschanbe-Deklaration“ enthält eine Reihe von strategischen Forderungen für Internet Governance, darunter auch die Anerkennung des Konzepts eines „national Internet Segments“.
- Die von der OECD ausgehandelten Vorschläge für eine globale Digitalsteuer wurden von den G20-und G7-Finanzministern akzeptiert. Der ehemalige australische Finanzminister Mathias Corman wurde zum neuen OECD-Generalsekretär gewählt.
- Bei den Verhandlungen im Rahmen der WTO zur Beendigung des aus dem Jahre 1998 stammenden Moratoriums zum elektronischen Geschäftsverkehr und zum Abschluss eines neuen WTO-Vertrags zum digitalen Handel sind im 3. Quartal 2021 weitere Fortschritte erzielt worden;
- Die Europäische Kommission hat sich auf einen Fahrplan zur Umsetzung ihres Konzepts für eine „Europäische Digitale Dekade“ verständigt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat den Vorschlag für ein „Cyber Resilience Act“ unterbreitet.
- Die Ad-Hoc Arbeitsgruppe zur künstlichen Intelligenz (CAHAI) des Europarates hat bei ihrer 5. Plenarsitzung am 7. Juli 2021 weitere Grundsatzfragen geklärt und den Fahrplan für die Erstellung des Entwurfs für eine neue Europarats-Konvention präzisiert;
- Eine zwischenstaatliche UNESCO-Expertenkonferenz hat Ende Juni 2021 den Entwurf für ein Rechtsinstrument zur „Ethik künstlicher Intelligenz“ verabschiedet. Die Empfehlung soll im November 2021 bei der 41. UNESCO-Generalkonferenz verabschiedet werden;
- Im September fanden die turnusmäßige Konferenzserien der ITU Council Working Groups statt. Der erneute Vorschlag Russlands, das Thema der Verwaltung kritischer Internet-Ressourcen wieder auf die ITU-Tagesordnung zu setzen, fanden abermals keine Mehrheit (ITU-CWG-Internet).
- Der 48. Sitzung des UN-Menschenrechtsrates lag ein umfangreicher Bericht der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, vom 13. September 2021 vor, der sich mit den Auswirkungen künstlicher Intelligenz auf die Menschenrechte und insbesondere auf das individuelle Recht zum Schutz der Privatsphäre beziehen;
- In Grundsatzreden haben NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und sein Stellvertreter Mircea Geona auf die Herausforderungen hingewiesen, die sich für die Sicherheit der NATO-Staaten aus der Entwicklung künstlicher Intelligenz und autonomer Waffensysteme ergeben.
- Die im Januar 2021 gegründete „Digital Cooperation Organisation“ (DCO) von sieben arabischen und afrikanischen Staaten hat sich bei einem Side-Event am Rande der 76. UN-Vollversammlung am 23. September 2021 für die Überwindung der digitalen Spaltung eingesetzt und alle UN-Mitglieder aufgefordert der DCO beizutreten.
Multistakeholder-Ebene
Auf der Multistakeholder und nicht-staatlichen Ebene sind im 3. Quartal 2021 die folgenden Aktivitäten zu verzeichnen:
- Zur Vorbereitung des 17. IGF im Dezember 2021 im polnischen Kattowitz gab es weitere virtuelle Sitzungen der Multistakeholder Advisory Group (MAG). Highlights des IGF werden u.a. High Level Meetings von Regierungen und Parlamentariern sein.
- Unter der finnischen Präsidentschaft hat die Freedom Online Coalition (FOC) am 4. Juli 2021 ein Joint Statement zur Meinungsäußerungsfreiheit dem UN-Menschenrechtsrat übergeben.
- Die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) hat am 19. September 2021 Vorschläge für die Außenpolitik einer neuen deutschen Bundesregierung veröffentlicht, die auch Ideen für eine neue Cyberdiplomatie enthält.
- Das „Global Forum on Cyber Expertise“ (GFCE) hat eine neue Workshopserie zu dem Thema „Cyberkriminalität“ gestartet.
- Die von Siemens initiierte „Charter of Trust“ (CoT) hat einen Workshop zu Problemen der Sicherheit bei digitalen Lieferketten veranstaltet.
- Der von Microsoft initiierte „Tech Accord“ hat gemeinsam mit dem Genfer CyberPeace Institute am 29. September 2021 ein „Multistakeholder Manifesto on Cybercrime“ veröffentlicht, mit dem den Verhandlern der neuen UN-Cybercrime-Konvention sieben Richtlinien an die Hand gegeben werden;
- Die „RightsCon“ 2021 hat am 29. August 2021 ihren Abschlussbericht vorgestellt und den Termin (6. – 8. Juni 2022) für die 11. RightsCon bekanntgegeben;
- Das „Global Internet Forum to Counter Terrorism“ (GIFTC) hat seinen 3. Gipfel im Juli 2021 veranstaltet und über seine Erfolge berichtet.
UN-Generalsekretär António Guterres, Our Common Agenda, New York, 12. September 2021It is time to protect the online space and strengthen its governance. I would urge the Internet Governance Forum to adapt, innovate and reform to support effective governance of the digital commons and keep pace with rapid, real-world developments. Furthermore, building on the recommendations of the road map for digital cooperation, the United Nations, Governments, the private sector and civil society could come together as a multi-stakeholder digital technology track in preparation for a Summit of the Future to agree on a Global Digital Compact. This would outline shared principles for an open, free and secure digital future for all. Complex digital issues that could be addressed may include: reaffirming the fundamental commitment to connecting the unconnected; avoiding fragmentation of the Internet; providing people with options as to how their data is used; application of human rights online; and promoting a trustworthy Internet by introducing accountability criteria for discrimination and misleading content. More broadly, the Compact could also promote regulation of artificial intelligence to ensure that this is aligned with shared global value.